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die Schlange

Eine visuelle Auseinandersetzung mit Identität und Gemeinschaft im urbanen Raum anhand der Schlangenbader Straße.

Abstract

Wahrnehmung ist unglaublich individuell und subjektiv. Alles, was uns umgibt, steht in einer Wechselwirkung zu uns selbst und beeinflusst uns in unserem Sein. Den größten Teil des Tages sind wir von Räumen umgeben, die uns in unserer Emotionalität prägen. So divers und unterschiedlich wie wir Menschen, haben Räume und Häuser auch eine Persona, die sich durch atmosphärische Stimmungen zu erkennen gibt. Das daraus resultierende Bild ist für mich eng mit den Bewohner:innen verbunden. Doch was ist, wenn unser Zuhause nicht nur einzeln betrachtet ein Zimmer, eine Wohnung oder ein Haus meint? Sondern vielmehr einen Komplex aus Wahrnehmungen, Emotionen und Räumen darstellt. Daraus resultiert meine Leitfrage: Wie kann das atmosphärische Erleben von Individuen in urbanen Wohnräumen, wie dem Zuhause, abbildbar und erfahrbar gemacht werden? Vielleicht lassen sich anhand dieses Beispiels Rückschlüsse auf andere Wohnkomplexe ziehen und so ergründen, wie Menschen in einem Zusammenleben ihre Umgebung wahrnehmen.

„Die Schlange“ ist in der Stadt Berlin umgangssprachlich und historisch seit den 1980er Jahren ein einschlägiger Begriff. Der Gebäudekomplex in der Schlangenbader Straße scheint nicht nur architektonisch einzigartig zu sein, sondern wirkt auf mich, von außen betrachtet, in seiner Funktion als sozialer Anker für eine lokale Community. Diesen Anschein möchte ich empirisch untersuchen und prüfen. Entsteht hier, bedingt durch die Masse an Wohnungen, die sich über die Autobahn legen und deren Einbettung in einen Großstadtbezirk, ein besonderes Gemeinschaftsbild? In meiner Theoriearbeit ziehe ich vergleichsweise künstlerische Projekte hinzu, welche sich ebenso mit architektonisch oder soziologisch ähnlichen „Hausprojekten“ beschäftigen.

Als Designerin und Fotografin will ich das, was ich in meinen visuellen Arbeiten festhalte und fühle, anders gesagt komplexe Inhalte, verständlicher für andere Menschen kommunizieren. Dabei ist es für mich wichtig, dass ich nicht nur allein meine Perspektive ergründe, sondern empathisch gemeinsam mit den Bewohner:innen ihre individuellen Räume erforsche. Beschreiben mir die Bewohner:innen Perspektiven auf das Haus, die Fassade, die Gänge, die ich noch nicht in Betracht gezogen habe?

Einleitung

Die vorliegende Arbeit ist ein Annäherungsprozess. An Ätmosphären, Räume, Wahrnehmung und das Spürbare. Im Zentrum steht die Frage, wie sich atmosphärische Erfahrungen nachvollziehbar machen lassen und wie wir uns mit den menschlichen Bedürfnissen des Zusammenlebens auseinandersetzen. Wie verhalten wir uns in Beziehung zu emotionalen, urbanen und halböffentlichen Räumen? Dieses Buch soll eine Einladung sein, Räume nicht nur zu betrachten, sondern ihnen zuzuhören. Nicht in dem Sinn, Antworten zu erwarten, sondern Stimmungen wahrzunehmen. Wie wirkt ein Ort auf uns, was löst er in uns aus, wohin lenkt er unsere Aufmerksamkeit? Es geht nicht um objektive Beschreibungen, sondern um die feinen Linien zwischen Erleben und Verstehen des mir Vertrautem und Neuem. Zwischen dem, was ein Raum ist, und dem, was er in uns wird.

Erst wenn wir verstehen, wie atmosphärische Räume auf uns als Individuen wirken, können wir lernen, diese Erfahrungen zu kommunizieren. Die Fotografie kann dabei als vermittelnde Ebene dienen. Sie ermöglicht, persönliche Wahrnehmungen sichtbar zu machen, ohne sie vollständig in Sprache auflösen zu müssen. Indem fotografische Beobachtungen geteilt werden, werden subjektive Raumerfahrungen für andere Menschen kommunizierbar. Auf diese Weise gewinnt der Raum auch in einem gesellschaftlichen Kontext eine andere Rolle. Er wird nicht mehr ausschließlich als bauliche Struktur verstanden, sondern als aktiver Bestandteil des Zusammenlebens, als etwas, das Beziehungen prägt, Stimmungen erzeugt, Gemeinschaften beeinflusst.

Dabei ist die fotografische Arbeit ein Medium des Beobachtens, Festhaltens und Hinterfragens. Atmosphärische Räume sind nicht neutral, und die Bilder, die von ihnen entstehen, sind es dementsprechend auch nicht. Die Fotografie hilft dabei, sich selbst einzuordnen, zu positionieren und dabei gleichzeitig die Perspektive anderer Menschen einzunehmen.

– THEORIE –

unerwartete Faszination

Ich kann mich nur noch grob daran erinnern, wie ich das Haus in der Schlangenbader Straße zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe. Damals ging ich in Schmargendorf zur Grundschule und kam dadurch früh mit dem Bezirk und seiner Umgebung in Kontakt. Eine Freundin aus meiner Klasse wohnte ganz in der Nähe und manchmal spielten wir auf der großen roten Kletterspinne im angrenzenden Hof. Seitdem hat mich dieses Gebäude auf gewisse Weise begleitet, lange Zeit nur unscharf, wie etwas, das am Rand des Blickfelds auftaucht und im Hinterkopf gespeichert wird. Ein Tunnel, der durch ein Haus führt. Irgendwie utopisch. Fast wie Science-Fiction. Dass Häuser so aussehen können, wusste ich vorher nicht. Die Idee der Autobahnüberbauung hat mich schon als Kind irritiert und gleichzeitig fasziniert. Es war für mich kaum greifbar, dass man durch ein Haus hindurchfahren kann. Die Frage, wie so ein Gebilde von innen wirkt, hat mich damals nicht losgelassen. Viele kennen das Gebäude, selbst wenn sie nie dort waren. Es ist Teil eines kollektiven Stadtgedächtnisses, ein Kultobjekt. Menschen verbinden etwas damit und sei es auch nur Geschichten oder Gerüchte. Fast ebenso faszinierend wie das Haus selbst finde ich seinen Spitznamen: die Schlange ↘. Ein organisches Wesen, das sich mit weichen Bewegungen seinen Weg sucht. Wieder so ein Kontrast, der mich daran so fesselt. Der Name leitet sich zwar schlicht von der parallel verlaufenden Straße ab, aber etwas so klobiges mit einer Schlange zu vergleichen, grenzt an Absurdität und macht es gerade deshalb spannend.

Diese Kontraste hören dort nicht auf. Die Schlange ist ein Hochhaus in einem innerstädtischen Bezirk, eine Wohnbatterie, deren lange Innenhöfe grüne Inseln bieten und Kindern die Möglichkeit, geschützt zu spielen. Ein Wohnblock, der dennoch auf Nachbarschaft ausgelegt ist. Eine Anlage die zuerst als Luxuswohnungen gedacht war und dann als Sozialbau mit Wohnberechtigungsschein umgesetzt wurde. Die Wohnungen liegen über einer Autobahn und dienen zugleich als Schallschutzmaßnahme für die nähere Umgebung wegen der durchfließenden Autos. Wohnraum, Infrastruktur und Verkehr verweben sich miteinander. Schon früh habe ich mich gefragt, wie es wohl im Inneren aussieht. Von außen ist das Hauptaugenmerk auf die gestaffelten Balkone gelenkt, also Orte, von denen aus man normalerweise sitzt und nach draußen schaut. Aber wie blickt man dort hinunter? Was sieht man, wenn man selbst oben steht? Ringsum gibt es nichts, das höher als vier oder fünf Etagen wäre, während sich die Schlange über 14 Etagen erstreckt.

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Dann der erste richtige Kontakt, zurück an der Schlange, nach der Schließung des Tunnels. Vor der Serie „Schlangenbader Tunnel“ habe ich selten einen Ort immer wiederkehrend besucht, ihn fotografiert und auf diese Weise wahrgenommen. Weil Fotografie für mich ein ganz anderes Wahrnehmen ist. Sie ist mein Erzählen der Gedanken, die ich nicht in Worte fassen kann.

Die offene politische Lage des Tunnels, wie damit weiter verfahren werden sollte, hatte in meinen Augen eine dringende Aktualität. Ich wollte in meinen Bildern und Projekten etwas zeigen, was Menschen beschäftigt, was Aufmerksamkeit verdient. Etwas Verschwindendes, was vorher für mich selbstverständlich war, zu dokumentieren. Was möchte ich sagen und ausdrücken? Ich habe mich immer gefragt, was das bei mir eigentlich sein kann. Eine Lebensaufgabe wie es mir scheint. Der Tunnel schien mir ein Sinnbild zu sein für etwas, das sich in den darauffolgenden Monaten als größeres Metathema und in vielen Fragen in meinem Kopf kristallisierte: Wie stehen wir zu den Räumen, die uns umgeben, sei es der private oder der öffentliche Raum? Was machen diese Räume mit uns? Und wie nehmen wir diese Beeinflussung wahr? Was passiert, wenn sich diese Räume schlagartig ändern, beispielsweise durch die Schließung des Tunnels? Und wie stehen wir dazu im Austausch? Mich zog nicht nur die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Raum und Umgebung in den Bann, sondern auch die fotografische Auseinandersetzung mit einem Ort, der scheinbar immer nur einen Hauch davon entfernt ist, zu verschwinden.

Das Gebiet rund um den Tunnel, die Autobahntrasse, Ab- und Zufahrt für die Autos, haben sich innerhalb der Monate, in denen ich dorthin zurückkehrte, immer wieder verändert. Man sah ganz deutlich, dass sich auch andere Menschen hinter die Absperrungen wagten und den Ort erkundeten. Einmal begegnete ich einem Pärchen, das auf der Brücke ein Shooting veranstaltete. Ein anderes Mal wurde ich von Teenagern im Tunnel zuerst für eine Polizistin, dann für eine Sprayerin gehalten. Die Wände im Tunnel sind bunt geworden. Es liegen verlassene E-Roller rum, ganz zu schweigen von dem Müll, der sich angesammelt hat.

Es brennt nur noch die Notbeleuchtung, und ansonsten bleibt nur noch das natürliche Licht, was in das lange Rechteck hineinfällt. Aber auch das verschwindet mit jedem Meter, den man weiter reinläuft. Durch die s-förmige Biegung gibt es nur eine Stelle in der Mitte des Tunnels, wo man zu beiden Seiten nach draußen schauen kann. Die Schritte haben einen merkwürdigen Klang auf dem Asphalt. Es fühlt sich merkwürdig an, als Mensch an einem Ort zu sein, der für Autos gebaut wurde.

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„nachts sind alle Füchse grau“ war die zweite Serie und bot mir die Gelegenheit, mich mit der Schlange auseinanderzusetzen. Die Nachtaufnahmen waren für mich bisher eine völlig neue fotografische Annäherung an das Objekt, alleine schon deshalb, weil analoge Bilder bei Dunkelheit eine Herausforderung sind. Doch mein Anspruch auf Vollständigkeit machte es notwendig, mich meinem Motiv auf diese Weise zu nähern. Die Überlegung, das Thema „Haus und Wohnen“ nicht auch mit der Dokumentation der Nacht zu verbinden, schien mir nicht logisch. Schließlich verbringen wir einen großen Teil unseres Lebens nachts in unserem Zuhause, während wir schlafen. Bei mehreren Spaziergängen fiel mir auf, dass die schiere Masse an Fenstern, im Dunkeln viel besser zu erkennen ist. Hinter jedem Lichtschein verbirgt sich ein Leben. In der Menge der aufgereihten Zimmer spürte ich eine seltsame Präsenz und Verbundenheit. Während tagsüber nicht erkennbar ist, ob sich überhaupt Menschen in ihren Wohnungen aufhalten, ist dies abends sehr leicht. Die Zimmer an sich sind nicht einsehbar, und das müssen sie auch gar nicht sein. Durch das eingeschaltete Licht weiß man, dass jemand zu Hause ist. Allein über dieses optische Signal weiß ich, dass sich hinter den Scheiben Menschen aufhalten und ihren Alltag leben. In meinem Inneren entsteht eine Spannung aus Gefühlen von Anonymität und Zugehörigkeit.

Was ich aus beiden Serien mitnehme ist, dass ich noch nicht fertig bin mit diesem Ort. Für mich waren beide Auseinandersetzungen Teilaspekte eines größeren Ganzen. Der Tunnel, der Breitenbachplatz, das Haus und die Höfe; nun möchte ich mich den Menschen hier widmen. Wie lebt es sich hier? Für mich schwingt in meinen Gefühlen und Beobachtungen vor Ort etwas Undefinierbares mit.

Die Schlangenbader Straße ist kein geschlossenes Wohnobjekt, sondern ein halböffentlicher Raum: Menschen fahren durch den Tunnel hindurch, laufen hindurch, blicken in die Innenhöfe hinein. Das Gebäude bündelt auf engstem Raum alles, was in der Stadt sonst in vielen einzelnen Fragmenten aufgeteilt ist. Innerhalb des Komplexes gibt es einen Supermarkt, eine Apotheke, einen Waschsalon, mehrere Kneipen, ein Nagelstudio, mehrere Gewerberäume wie ein Architekturbüro oder eine Physiotherapiepraxis, Gastronomie, einen Kindergarten, eine Montessori-Oberschule, einen Bücherladen und ein Kindertheater. Es wirkt wie ein kleines Dorf mitten in der Stadt. Hier treffen verschiedene Lebensrealitäten aufeinander und genau das macht es so spannend, weiter zu forschen, zu überprüfen, ob meine ersten Eindrücke richtig waren.

gemeinsam, miteinander leben

Misskommunikation beginnt häufig schon im gesprochenen Wort. Das, was wir ausdrücken wollen, deckt sich nicht immer mit dem, was wir sagen – und noch weniger mit dem, was bei anderen ankommt. Gerade deshalb können Bilder ein wichtiges Medium zwischen Menschen sein: Sie können Atmosphären vermitteln, die sprachlich schwer greifbar sind, und ermöglichen es, Erfahrungen zu teilen, ohne sie auf eine eindeutige Bedeutung festzulegen. Bilder eröffnen einen Zwischenraum, in dem unterschiedliche Wahrnehmungen nebeneinander bestehen dürfen.

Emotionale Räume, welche wir in uns tragen und jene, die wir miteinander schaffen, beeinflussen uns als Individuen und ebenso, wie wir unser gesellschaftliches Zusammenleben gestalten. Sie prägen, wie wir uns in Bezug auf andere positionieren, wie offen wir sind, wie viel Vertrauen wir aufbringen können. Wenn wir diese Räume sichtbar machen und darüber sprechen, entsteht eine Grundlage für ein Verständnis, das über individuelle Perspektiven hinausreicht.

In diesem Sinn ist das Thematisieren und Abbilden von Räumen, ob in Bild, Text oder räumlicher Gestaltung, kein rein ästhetischer Akt, sondern eine Form der Vermittlung. Es geht darum, atmosphärische Gegebenheiten offenzulegen, die unser Miteinander prägen. Oft ohne, dass wir diese atmosphärischen Bedingungen und Voraussetzungen bewusst wahrnehmen. Wenn wir diese Erfahrungen teilen, können wir besser verstehen, was uns verbindet und trennt. Gestaltung und Fotografie werden so zu Werkzeugen, die ermöglichen, Wahrnehmungen zugänglich zu machen und damit Räume nicht nur zu zeigen, sondern auch gesellschaftlich relevant zu machen.

– PRAXIS –

Kontakt aufnehmen

Zu Beginn meiner Arbeit wollte ich noch einmal mit dem Ort in Kontakt kommen. Durch mein Auslandssemester hatte ich zeitlich und räumlich Abstand zur Schlange gewonnen und konnte mich somit mit einem frischen Blick diesem Haus widmen. Es folgten einige Begehungen des Ortes. Ich setzte mich mit einem Kaffee vor den Backshop auf die Bank und beobachtete das Treiben auf dem Hof. Immer mehr kristallisierte sich für mich heraus, dass ich nicht einfach nur den Ort an sich, das Haus, als reine Architekturbilder abbilden wollte. Was diesen Ort vor allem ausmachte, schienen mir die Menschen, die Bewohner:innen, zu sein. Auch fand ich es schwierig, bei meinen Recherchen Bilder von den Innenräumen zu finden. Ein paar gibt es, aber meiner Meinung nach zu wenige. Während ich die Fassade, die Balkone, Treppenhäuser und Fenster betrachtete, stellte ich mir vor, wie es aussehen könnte. Zu einem späteren Zeitpunkt der Bearbeitung fand ich teilweise Filmbeiträge und Filmprojekte, die einige Bewohner:innen begleiteten und den Alltag der Schlangenbewohner:innen dokumentierten. Ich bin jedoch froh, zu Anfang einen unbeeinflussten Blick gehabt zu haben, um meine eigene Version der Schlange zu entdecken und kennenzulernen. Durch den Tag des offenen Denkmals Mitte September ergab sich für mich die spontane Chance, an einer ausführlichen Führung durch das gesamte Gebäude teilzunehmen. Dabei wurden die Entstehungsgeschichte sowie einige Details und Besonderheiten des Hauses besprochen. Gemeinsam mit dem Quartiersmanager (Hausmeister) hatte ich die Gelegenheit, die Tiefgarage, die neu eröffnete Dachterrasse, eine leerstehende Wohnung und das Dach zu besichtigen. Das war ein wertvoller Einblick in Kernbereiche des weitläufigen Hauses und eine tolle Informationsquelle. Tatsächlich habe ich nach Ende der Führung noch zusätzliches Material in Form einer Karte und einer Broschüre geschenkt bekommen.

Mein Entschluss die Menschen in meine Ergründung dieses Ortes einzubeziehen zog nach sich, dass ich mir überlegen musste, auf welche Weise ich mit Leuten in Kontakt treten könnte. Für mich stand an erster Stelle, Erfahrungen und Erlebnisse der Bewohner:innen zu sammeln. Mir war es wichtig, nicht Interviews zu führen, sondern vor allem zuzuhören. Dabei spielte die Freiwilligkeit eine große Rolle. Mir war bewusst, dass ich mich an einen sensiblen Ort begab, das Zuhause von Menschen. Ich wollte den ersten Kontakt so unintrusiv wie möglich gestalten. Gleichzeitig wollte ich natürlich so viel Engagement wie möglich erzeugen. Deshalb entschied ich mich, zunächst einen DIN-A5-Flyer zu gestalten, den ich in Briefkästen werfen, Leuten in die Hand geben oder in Läden auslegen konnte. Dabei versuchte ich, in möglichst knapper und unmittelbarer Ansprache Menschen zu finden, die mir ihre Geschichten über das Haus und ihr Zuhause erzählen konnten. Mir war bewusst, dass ein Flyer im Briefkasten nicht das unmittelbarste Medium ist, da er mit der Werbung zwischen allen anderen Sendungen landet. Er wird entweder sofort am Briefkasten entsorgt oder vielleicht auf dem Küchentisch vergessen. Ich glaube jedoch, dass ein Flyer wirklich die Menschen anzieht, die sich mit Elan und Leidenschaft für das Thema interessieren und auch bereit sind, Zeit zu investieren. Mit der Vorderseite und dem schwarz-weißen Bild des Hauses wollte ich Neugier erwecken. Ich setzte darauf, dass die Bewohner:innen auf den ersten Blick erkennen, dass es sich um ihr Wohngebäude handelt. Gleichzeitig ist der Ausschnitt so gewählt, dass nur ein Teil der Architektur zu sehen ist. Der Call-to-Action „Zusammen das Zuhause erkunden und neu entdecken. Dabei brauche ich deine Hilfe.“ sollte direkt auffallen. Deshalb wählte ich für die Schrift auf dem Flyer die Akzentfarbe Gelb. Auch hier wollte ich eine Verbindung schaffen. Viele Elemente im Wohnhaus der der Schlangenbader Straße sind mit Gelb und Blau akzentuiert. Mit den Flyern wollte ich zunächst so viele Menschen wie möglich ansprechen. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, 1.000 Stück zu drucken und in den Briefkästen zu verteilen. Dabei beschränkte ich mich vorerst auf den Teil der Überbauung mit frei zugänglichen Foyers. Die angrenzenden Höfe, die sogenannte Schallschutzrandbebauung, sind nur durch Klingeln und Herein-gelassen-werden zu betreten. Später hatte ich jedoch das Glück, dass Menschen, die gerade selbst nach Hause kamen, mich auch in diesen Teil der Anlage hineinließen, sodass ich alle Flyer vollständig vor Ort verteilen konnte.

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Schon beim Einwerfen der Flyer kam ich mit Menschen ins Gespräch. Dabei konnte ich gleich testen, wie mein Vorhaben und meine Projektideen bei den Menschen ankamen. Manche fanden es interessant und ich konnte ihnen den Flyer direkt übergeben. Andere empfanden das Thema als zu privat und wollten nicht mit mir darüber sprechen, was ich auch sehr nachvollziehen kann.

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Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich gleich am ersten Tag nach der Austeilaktion Rückmeldungen bekommen würde. Ich telefonierte mit einigen Menschen und versuchte, Termine auszumachen. Dabei erhielt ich gleich am Telefon einen kleinen Einblick in die Geschichte der jeweiligen Personen und was sie mir mitteilen wollten. Ich bot allen ein erstes Treffen auf neutralem Grund an und versuchte zu vermitteln, dass ich das Zuhause als etwas sehr Privates empfinde, in das man nicht unbedingt jeden hineinlassen möchte, geschweige denn eine fremde Person.

Die Webseite www.schlangen-atmosphäre.de entstand als digitale Erweiterung des Flyers und sollte die Aufgabe erfüllen, zentrale Inhalte meiner Bachelorarbeit zugänglich, vertiefend und anschaulich darzustellen. Während der Flyer bewusst reduziert gestaltet ist und nur eine erste inhaltliche Orientierung bietet, dient die Webseite dazu, die theoretischen Grundlagen und konzeptionellen Überlegungen hinter dem Projekt umfassender zu erläutern. Sie ermöglicht es den Lesenden, sich eigenständig und in ihrem eigenen Tempo mit den Hintergründen des Themas auseinanderzusetzen, ein entscheidender Schritt, um die in meiner Arbeit entwickelte Perspektive auf Wahrnehmung, Atmosphäre und urbanen Raum verständlich zu machen.

Im Gestaltungsprozess stand daher die Frage im Zentrum, wie sich die Stimmung, Ambivalenz und Vielschichtigkeit des untersuchten Ortes visuell und strukturell transportieren lassen, ohne die theoretischen Inhalte zu überfrachten. Die Entscheidung für eine reduzierte, dokumentarische Gestaltung war bewusst: meine analogen schwarz-weiß Bilder bilden die Grundlage der visuellen Sprache und schaffen eine ruhige Ebene, neben der die Texte klar wirken können. Die Bildwelt fungiert dabei nicht als Dekoration, sondern als atmosphärischer Rahmen.

Das Gelb fungiert hier wieder als Akzentfarbe, die ausgewählte Elemente wie Zitate, Buttons oder Headlines hervorhebt. Diese gezielte Setzung unterstützt die Orientierung und schafft visuelle Anker zum Flyer. Die typografische Hierarchie mit großzügigen Headlines und klar strukturiertem Fließtext erleichtert das Lesen längerer Passagen.

Helle und dunkle Sektionen wechseln sich ab, um inhaltliche Kapitel voneinander zu trennen und dem Scrollen einen natürlichen Rhythmus zu verleihen. Auf diese Weise bleibt die Seite trotz textlicher Tiefe leicht erfassbar. Da die Webseite in erster Linie zur inhaltlichen Vertiefung dient, bestand ein weiterer wichtiger Schritt darin, eine persönliche Einladung zur Mitwirkung einzubinden. Das Projekt lebt davon, unterschiedliche Perspektiven auf denselben Raum sichtbar zu machen. Deshalb endet die Seite bewusst nicht mit einer Zusammenfassung, sondern mit einer offenen Frage und klaren Kontaktmöglichkeiten.

Insgesamt wollte ich die Webseite so konzipieren, dass sie nicht nur als Informationsplattform funktioniert, sondern als atmosphärisches, inhaltlich fokussiertes Erlebnis, das die theoretischen Schwerpunkte meiner Bachelorarbeit unterstützt.

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erzählen und zuhören

Verhaltensprotokoll, wenn man eine fremde Wohnung betritt. Soll ich die Schuhe ausziehen? Wo lege ich meine Sachen ab? Danach folgt eine „Führung“ durch die Räumlichkeiten. Was möchtest du denn eigentlich von mir wissen? Möchtest du etwas trinken? Ich wollte sowieso gerade Kaffee aufsetzen. Viele meiner Begegnungen haben zuallererst ein ähnliches Muster. Ich frage mich, ob ich mich richtig verhalte, möchte versichern, dass ich kein Fremdkörper in der Wohnung bin. Danach folgt die Unterhaltung. Und hier trennen sich dann schnell die Gemeinsamkeiten, die die Gesprächen untereinander haben voneinander. Manche erwarten ein strukturiertes Interview. Einige erzählen von sich aus, ohne Punkt und Komma, los. Manche scheuen den Blickkontakt beim Erzählen, schauen in ihre Räume rein, nutzen Möblierung oder Erinnerungsstücke als Anlass in die nächste Geschichte zu springen. Was jedoch alle Menschen erwähnen, warum sie in der Schlange geblieben sind und welche Dinge sie schätzen: der Schnitt der Wohnung, das viele Licht und der Balkon, die Verkehrsanbindung, den umliegenden Kiez.

Alle Menschen, die ich treffe, leben schon einige Zeit in der Schlange. Mindestens 5 Jahre, maximal 44 Jahre. Viele sind zufrieden, einige nicht ganz zufrieden mit degewo als Hausverwaltung. Aber alle begeistert von dem Prinzip und Grundgedanken des Hauses. „Nicht nur nebeneinander, sondern gemeinsam miteinander leben“, so habe ich es zumindest für mich definiert. Ich treffe Charaktere, die sich nicht allzu sehr mit ihren Nachbar:innen beschäftigen. Ein „Hallo“ im Fahrstuhl oder auf dem Gang, mal ein Paket für den direkten Nachbarn annehmen, aber auch nicht mehr. Da wird die Anonymität nicht nur der Großstadt, sondern auch des riesigen Wohnkomplexes wertgeschätzt. Einmal fällt sogar der Vergleich mit einer „Legebatterie“, die Balkone als Hühnerstange, nur hätten die Bewohner:innen wahrscheinlich eine bessere Aussicht.

Jedoch, sind andere sehr aktiv, ihre Nachbarschaft zu gestalten. Sie sind ehrenamtlich bei „Nachbarn für Nachbarn“ aktiv oder Teil der verschiedenen Hobbygruppen. Da wird zusammen gemalt, Karten gespielt, Englisch oder Deutsch gelernt oder Filme geschaut. Wöchentliche Aktionen bringen die Menschen aus dem Haus zusammen. Wie zum Beispiel ein Hofkonzert am Ende des Spätsommers, an dem ich dabei sein konnte. Tatsächlich liegt der Altersdurchschnitt im Wohnkomplex bei ca. 65 Jahren. Dadurch richten sich auch die meisten Angebote vor Ort an ein Publikum mit gehobenem Alter. Diese Ausrichtung heißt, aber nicht, dass Jüngere nicht willkommen sind. Ab und zu findet auch hier eine Durchmischung statt. Viele wünschen sich aber wieder mehr neue Gesichter zu sehen. Freudig wird mir auch erzählt, dass in den letzten Jahren wieder mehr Familien in die Schlange eingezogen sind. Das deckt sich auch mit meinen Beobachtungen, wenn ich zu meinen Besuchsterminen laufe, sind auf allen Spielplätzen mindestens zwei bis drei Kinder unterwegs. An einem dieser Tage beschäftige ich mich nochmals damit, die Höfe abzulaufen, die Briefkästen anzuschauen, da heute das Licht besonders tief in die Eingänge fällt. Währenddessen entdecke ich ein, so scheint es, vergessenes Fahrrad, was an einen der runden Poller angeschlossen wurde. Während ich meinen Ausschnitt suche bekomme ich mit, wie eine Gruppe Kinder skatet, rumalbert, sich verabschiedet und jeder einzeln in einem anderen Hauseingang verschwindet.

Ich habe alle Bewohner:innen, mit denen ich gesprochen habe gefragt, welche drei Worte sie für das Haus finden würden, wenn sie es zum einen architektonisch und zum anderen emotional beschreiben müssten. Dabei hätten die Antworten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Und genau in diesen Momenten wird mir umso mehr bewusst, weshalb es mir von Anfang an des Projektes so wichtig war, diese Menschen, ihre Erfahrungen, ihre Erinnerungen und Perspektiven mit einzubeziehen. Das hier ist ihr Ort, ihr Zuhause. Die Verbindung, die ich mit diesen Menschen aufbaue, ermöglicht es mir den Raum auf eine private, lebendige und persönliche Weise durch ihre Augen zu betrachten. Diese gesammelten Eindrücke, die ich aus den Gesprächen mitnehme, verhindern, dass ich nur meine eigenen Vorstellungen auf den Ort projiziere, den ich selbst in diesem Fall nur als Außenstehende erlebe. Durch das Zuhören kann ich besser verstehen, wie der Ort tatsächlich erlebt wird, anstatt dass ich nur glaube, wie er belebt wird.

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Dies sind meine handgeschriebenen Notizen zu den Kennenlern-Gesprächen der Schlaangenbewohnenden, in meiner Thesis folgt danach die persönliche Erzählung der Situationen aus meiner Sicht, sowie eine Auswahl von (meist) sieben Bildern pro fotografierte Wohnung.

Entwürfe zum Fotobuch

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– THESIS ALS PDF –

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– WERKSCHAU –

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Inhalt

BTS-VR@FHP_2019-2026_DOKU.pdf PDF BTS-VR@FHP_2019-2026_DOKU.pdf

Ein Projekt von

Fachgruppe

Kommunikationsdesign

Art des Projekts

Bachelorarbeit

Betreuer_in

foto: Prof. Wiebke Loeper foto: Friederike von Rauch

Zugehöriger Workspace

2.25-BA (SPO 2019) | 1001 (SPO 2025) Prüfung Bachelorarbeit und Präsentation

Entstehungszeitraum

Wintersemester 2025 / 2026