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Society and Disability

Wie sieht unsere Gesellschaft Menschen mit Behinderung? Wie könnte sich dieses Bild in Zukunft wandeln und welche Verantwortung trägt Design an diesem Prozess? Am Beispiel von Hörgeräten werde ich die Zukunftsbilder und deren Wandel im Medical Design analysieren. Ziel ist es, mit meinen Erkenntnissen meine Haltung zu Gestaltung zu reflektieren und mich aktiv mit meinem eigenen Zukunftsbild von Medizinischem Design auseinander zu setzen.

Acousticon - Miller Reese Hutchinson

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Das Acousticon wurde am 15.11.1901 als erstes batteriebetriebenes Hörgerät von Miller Reese Hutchinson zum Patent angemeldet. Die englische Königin Alexandra zählt zu dem prominentesten Nutzer*innen seiner Erfindung. Die neue Hörhilfe, die erstmalig unabhängig von Steckdosen benutzt werden konnte, ermöglichte ihr die akustische Teilnahme an den Krönungsfeierlichkeiten ihres Mannes, zu denen sie zum Dank auch Hutchinson einlud (vgl. Q7).

Aus dem Design des Accousticons lässt sich ein Menschenorientiertes Zukunftsbild ableiten. Kurzfristiges Ziel des Produktes war es, Menschen mit Hörbehinderungen wieder in eine mobile, autarke Gesellschaft zu integrieren. Dieser Unabhängigkeitsgedanke wird vor allem von den Batterien widergespiegelt, die eine Benutzung im Alltag ohne Steckdosen ermöglichen. Technischer Fortschritt wurde hier genutzt, um Menschen eine neue Teilnahme zu gewähren und die Gesellschaft inklusiver zu gestalten. Führt man diesen Gedanken bis ins Unendliche fort, so landet man letzten Endes immer bei einer Paradiesvorstellung. Eine Welt, in der das Leben miteinander und mit den äußeren Umständen in jeglicher Hinsicht perfekt ist. Aber wie sieht diese in Bezug auf Menschen mit Behinderungen aus?

Das Paradies - Eine Welt ohne Behinderungen?

Betrachten wir die Welt so wie sie aktuell ist, so werden wir keinen Menschen finden, der im gesamten perfekt ist. Jeder Mensch bringt seine eigenen Voraussetzungen mit, die sich mit der Zeit verändern, weiterentwickeln, verlagern oder verschieben. Die Vorstellungen von einer paradiesischen Welt neigen oft dazu, eine Gesellschaft perfekter Menschen zu zeichnen. Alle sind jung, gesund, dynamisch, lebensfroh und schön. Ich muss für mich sagen, dass ich das gar nicht erstrebenswert finde. Das was uns Menschen im Kern ausmacht ist unsere Vielfalt und unsere Individualität. Wenn wir aber damit beginnen zu fragen welche menschlichen Eigenschaften und Attribute paradiesisch sind, wo ziehen wir dann die Grenze? Sind Babys nicht eigentlich behindert? Sie sind zum Zeitpunkt ihrer Geburt nicht alleine überlebensfähig und bedürfen der Pflege und Hilfe anderer Menschen. Sind Babys also nicht paradiesisch? Was ist mit jungen, dynamischen, schönen Menschen, die plötzlich älter werden? In einem fließenden Übergang wird vielleicht ihre Gehör schlechter, ihre Gelenke steifer, ihr Gesicht faltiger. Wo ziehen wir also die Grenze zwischen Paradies und Menschen? Sicher, der Paradiesgedanke in jener Form entspringt aus dem Wunsch, Menschen das bestmögliche Gefühl des Lebens zu geben. Die Umsetzung jedoch widerspricht so sehr der Natur des Menschen, dass ich an dieser Stelle einen anderen Gedanken anbringen möchte.

Ein alternatives Paradiesbild:

Stellen wir uns eine Welt vor, in der es das Wort „Behinderung“ nicht mehr geben müsste. Und zwar nicht, weil es keine Menschen mit Behinderungen mehr geben würde, sondern weil unsere Gesellschaft so sensibilisiert für die Vielfalt der Menschen ist, dass durch Akzeptanz der Varianz und Inklusion für alle Menschen gleichermaßen gesorgt ist. Menschen mit Behinderungen fallen im Alltag nicht auf. Nicht etwa, weil ihre Behinderung versteckt oder „geheilt“ wurde, sondern weil an keinen Menschen der Anspruch der Perfektion und Leistungsfähigkeit gestellt wird. Die Voraussetzungen, die jedes Individuum zu verschiedenen Zeiten des Lebens mitbringt werden akzeptiert. Die Menschheit feiert die Vielfältigkeit der Menschlichkeit in jedem Alter, jeder körperlichen und seelischen Verfassung und jedes Geschlechts. Ich denke dies ist der Paradiesgedanke, der hinter Entwürfen wie dem des Acousticons liegt, das auf eine inklusive Zukunft hinarbeitet.

Aber zurück zum Acousticon:

Inwiefern hat nun das Design von Miller Reese Hutchison zur Verwirklichung dieses Zukunftsbildes beigetragen? Durch seinen Preis richtete sich das Produkt an die privilegierte, wohlhabende Oberschicht. Es blieb somit der breiten Masse vorenthalten. Der Preis und die sich daraus ergebende Zielgruppe müssen zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte jedoch keiner bewussten Entscheidung unterlegen haben. Vielmehr war es nicht möglich zu geringeren Preisen neue Technologien zu verbauen, zumal Hörhilfen nicht von Krankenkassen oder anderen Institutionen mitfinanziert wurden. Der Erfinder Miller Reese Hutchinson arbeitete Zeit seines Lebens an dem Design und der technischen Weiterentwicklung von Hörhilfen. Daraus schließe ich, dass sein Zukunftsbild weniger von finanziellen, als vielmehr von menschlichen Werten geprägt war. Kurz zusammengefasst: Vermutlich träumte er von einer Zukunft, in der Menschen mit (Hör)-Behinderungen problemlos am Alltag partizipieren und in die Gesellschaft integriert werden können. Er nutzte sein Interesse und Wissen um technische Innovationen, um auf dieses Zukunftsbild hinzuarbeiten.

Vactuphone - Earl C. Hanson of Washington

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Das Wort „Vactuphone“ setzt sich aus den Wörtern „Vacuum“, „Tube“ und „Phone“ zusammen. Das 1921 von der Globe Phone Manufacturing Company und Western Electric Co gefertigte Produkt, war das erste elektronisch betriebene Hörgerät. (vlg. Q4) Die Form der Hörhilfe ist angelehnt an die Boxkameras, die zu jener Zeit weit verbreitet waren. Die Intention dahinter war, das Schamgefühl bei den Betroffenen zu reduzieren und Diskretion zu schaffen. (vgl. Q1)

In diesem Produkt findet sich der erste Versuch, durch Design Behinderungen zu kaschieren bzw. zu verstecken. Diese Strategie bei der Gestaltung von Hörhilfen wird uns in dieser Analyse noch häufiger begegnen. Deshalb beschäftigt sich der nächste Absatz meiner Analyse mit dem dahinter stehenden Zukunftsbild und der Verantwortung, die Design dabei trägt.

Von Unsichtbarkeit und der Verantwortung von Design

Auch hinter diesem Entwurf steht ein menschenorientiertes Zukunftsbild. Das Design geht von der damaligen Gesellschaft aus, in der Menschen mit Behinderung ausgesondert wurden und nicht Teil des alltäglichen Lebens sein konnten. Behinderungen wurden als etwas wahrgenommen, für das man sich schämen muss oder das es lohnt, zu verstecken. Damit das Ansehen einer Person nicht negativ beeinflusst würde, sollten Behinderungen unauffällig werden. Hier stellt sich für mich die Frage nach Verantwortung von Design. Möchte ich mit dem Mittel des Gestaltens Symptome oder Ursachen angehen?

Die Ursache des Problems, des Schamgefühls für Behinderungen liegt hierbei in der Sensibilisierung und Akzeptanz der Gesellschaft. Dieser Entwurf bekämpft die Symptome, nämlich das auftretende Schamgefühl, indem es dieses bestätigt. Durch das Kaschieren der Hörhilfen wird suggeriert, dass Behinderungen tatsächlich etwas sind, das man lieber verstecken sollte. Die Botschaft der Gestaltung ist eindeutig: Eigentlich soll niemand von deiner Behinderung wissen.

Macht das diesen Entwurf in seiner Gänze schlecht? Ich denke nicht. Ich glaube wir müssen uns häufig die Frage stellen, ob wir mit den uns gegebenen Voraussetzungen arbeiten wollen oder durch unsere Entwürfe an der Veränderung dieser Umstände arbeiten möchten. Im konkreten Fall bedeutet das: Das Vactuphone erfüllt kurzfristig gedacht seinen Zweck. In einer Gesellschaft, in der Behinderungen (noch) nicht akzeptiert wurden, gibt es Menschen die Möglichkeit, sich wieder im Alltag zu bewegen und ohne Schamgefühle ihren Mitmenschen zu begegnen.

Trotzdem möchte ich diesen Ansatz kritisieren. Langfristig gedacht, hat diese Art des Zukunftsbildes negative Auswirkungen auf uns als Menschen. Führen wir das Zukunftsbild zu Ende, so erreichen wir im paradiesischen Zustand eine Welt, in der Menschen mit und ohne Behinderung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Dadurch verschwinden jedoch nicht die Behinderungen. Sie werden vielleicht kaschiert oder durch Technik ausgeglichen aber die Vielfalt der Menschen, Wachstums- und Alterungsprozesse oder psychische Krankheiten würde es weiterhin geben. Wenn sich an diesem Punkt die Gesellschaft nicht gewandelt hat, dann hat die soziale Sicht auf Varianz und Vielfalt negative Auswirkungen auf die Betroffenen. Nicht nur haben diese weiterhin das Gefühl ihre körperlichen oder seelischen Eigenschaften verstecken zu müssen um vollwertige Mitglieder dieser „perfekten“ Gesellschaft sein zu können, sondern wiederum stellt sich die Frage, wo die Grenzen gesetzt werden. Schon heute befinden wir uns an einem Punkt, wo nicht nur Behinderungen, sondern jede Form von vermeidlicher Schwäche versteckt werden soll. So lässt sich beispielsweise der Alterungsprozess mit Makeup und Schönheitsoperationen kaschieren, um nur ein Beispiel zu nennen.

Es werden immer weitere Formen von menschlicher Vielfalt auftauchen, die es aus Sicht der Gesellschaft zu verstecken gilt um dem Bild des perfekten Menschen hinterherzujagen. Design kann dieses Zukunftsbild entweder unterstützen oder aktiv verhindern und steht dafür in der Verantwortung in der Gestaltung.

KIND - Eine widersprüchliche Philosophie

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Aktuell zählt KIND zu den größten deutschen Hörgeräte Herstellern. Die batteriebetriebenen Hinter-dem-Ohr-Geräte (HdO) sind klein und unauffällig. Beim Bestsellermodell KINDinicio 1400 aus dem Jahr 2016 sitzt die Höreinheit mit Batteriefach und Bedienschalter hinter dem Ohr und kann mit einem Finger bedient werden. Der Fixierschirm hilft dabei, den externen Hörer im Gehörgang zu halten (vgl. Q5)

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Seit 2010 wirbt KIND mit bestimmten Videos und Plakatkampagnen für die Hörhilfen. Hierbei wird immer wieder der Werbeslogan „Ich hab ein Kind im Ohr“ verwendet (vgl. Q5). Die Kernaussage hat sich dabei über die Jahre kaum geändert. KIND Hörgeräte sind klein, unsichtbar, diskret oder unauffällig und kosten wenig bzw gar nichts.

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Schaut man sich die Werbevideos etwas genauer an, fällt auf, dass alle Werbefiguren durchschnittlich zwischen 60 und 80 Jahre alt sind. Wenn Menschen unter 30 Jahren in den Clips gezeigt werden, so spielen sie die Rolle der Kinder, Enkel oder andere junge Menschen im Alltag. Sie werden idealisiert dargestellt. Sie gelten als junges, dynamisches, lebensfrohes Ideal, dem es nachzueifern gilt.

In einer der größten Videokampagnen von KIND aus dem Jahr 2017 wird explizit von der „KIND Jungfühl-Garantie“ gesprochen. Der Protagonist des Videos durchlebt verschiedene Alltagssituationen, in denen er zu einem eigens für den Spot von Adel Tavil geschriebenen Song tanzt, lacht, mit kleinen Kindern Fußball spielt oder durch die Natur spaziert. Dabei wird er häufig mit den jungen, lebensfrohen Menschen verglichen, mit denen er jetzt scheinbar mithalten kann. Diese tragen jedoch keine Hörgeräte.

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KIND adressiert mit diesen Werbeclips eindeutig eine ältere Zielgruppe. Zwar handelt es sich hierbei unbestreitbar um die Hauptzielgruppe, jedoch wird dadurch nicht gezeigt, dass auch junge Menschen von Hörproblemen betroffen sein können. Sie fühlen sich nicht repräsentiert und bekommen dadurch unterbewusst suggeriert, dass Hörprobleme ausschließlich der älteren Generation vorbehalten sind und sie somit eigentlich dem Idealbild der Jugend nie gerecht werden können. Dadurch unterstützen die Videos und Plakate von KIND das Klischee von alten Menschen mit Hörgerät. So lange Behinderungen in allen Altersgruppen nicht normalisiert werden, wird es immer Kinder geben, die auf dem Schulhof wegen ihrer Hörgeräte gehänselt werden.

In Hinblick auf das Zukunftsbild der Marke möchte ich mich jedoch auf die Hauptzielgruppe konzentrieren. Ich habe bereits zuvor von einem Zukunftsbild gesprochen, in dem Menschen mit und ohne Behinderungen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. In den Kampagnen von KIND entfalten sich weitere Dimensionen und Aspekte dieses Zukunftsbildes. Zum einen wird der „perfekte Mensch“ hier mit einem konkreten Attribut versehen. Die Jugend ist das anzustrebende Idealbild. Die nahezu unsichtbaren Hörhilfen befähigen den Protagonisten des Werbeclips 2017 dazu, mit der Jugend mitzuhalten und ihnen in Punkto Energie, Beweglichkeit und Lebensfreude in nichts nachzustehen. In diesem Spot zeigt sich ein ähnliches Zukunftsbild wie beim Vactuphone. Die Menschen passen sich an die Umstände und die Gesellschaft an, nicht die Gesellschaft an die Menschen. Mitlerweile ist das Bild, dass man sich für Hörgeräte schämen sollte, tief in den Köpfen der Menschen verankert.

KIND wollte gerade durch die Plakatkampagne ältere Menschen addressieren, die sich gegen Hörgeräte sperren. Die Markenbotschaft lautet in etwa: Nur weil jemand ein Hörgerät trägt, ist die Person noch nicht alt. Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste.“ Um der Angst vorm Altern und der Scham vor der Vergänglichkeit des eigenen Körpers zu begegnen wird weiterhin mit Diskretion geworben. Hörgeräte werden immer kleiner und unauffälliger. Meiner Ansicht nach verstärkt dieser gutgemeinte Ansatz das Grundproblem weiter. Unterschwellig wird weiterhin suggeriert, dass Hörgeräte etwas sind, für das man sich schämt und das es zu verstecken gilt.

Auch das Design der Hörgeräte arbeitet meiner Auffassung nach weiter gegen die Hauptzielgruppe. Denn welche Voraussetzungen bringen ältere Menschen denn tatsächlich mit? Sind alle durchschnittlichen Rentner*innen zu dynamisch und agil wie der ältere Herr in dem Werbeclip? Tatsächlich lässt besonders die Feinmotorik mit zunehmendem Alter tendenziell ab, was dazu führt, dass die immer kleiner werdenden Hörgeräte von älteren Menschen umso schlechter bedient werden können. Ich selbst wurde im Wartebereich meines Akustikers oftmals Zeugin, wie er mehrfach erfolglos das Einsetzen und Einstellen der Geräte demonstrierte. Würde man jedoch die Geräte größer, und somit nutzungsfreundlicher für die Hauptzielgruppe machen, so wären diese nicht mehr so klein und unauffällig. KIND hat somit die Diskretion der Geräte über deren Bedienbarkeit für die Hauptnutzer*innen priorisiert.

Disability and Desirebility

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Die „Facett“ Hörgeräte von Leah Heiss verfolgen einen neuen Ansatz. Die von Blamey Saunders produzierten Geräte sollen laut eigener Aussage Behinderung („Disability“) in begehrenswert („desireable“) umwandeln. Der Entwurf orientiert sich an den Prozessen des Human centered Designs und will sowohl die Nutzung der Geräte für die Hauptzielgruppe erleichtern, als auch deren Wohlbefinden mit dem Produkt steigern. Statt einer Batterieklappe, die Menschen mit eingeschränkter Feinmotorik nur schwer zu bedienen ist, nutzt Facett eine Akku-Ladefunktion. Der hintere Teil der Geräte kann leicht magnetisch abgekoppelt und in der Aufbewahrungsdose geladen werden. Im Set sind immer vier Geräteköpfe enthalten, sodass zwei genutzt und zwei parallel geladen werden können. Optisch gleichen die Hörgeräte in Form und Größe denen herkömmlicher Geräte, die Außenstruktur ist jedoch als Facettenkörper veredelt und wird in den Farbvariationen Bronze, Silber, Perlmutt und Gold angeboten. Die Gestaltung soll an Schmuckstücke und Accessoires erinnern und dadurch das Selbstbewusstsein der Träger*innen steigern (vgl. Q2).

Das Zukunftsbild von Leah Heiss zeigt sich deutlich in ihrem bestärkenden Umgang mit Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen. Ihr Ziel ist es nicht, die Behinderung zu verstecken und damit die Menschen an die Umstände anzupassen, sondern Menschen in ihrer Vielfalt zu unterstützen und Design zu nutzen, um ein Statement zu setzen. Es gleicht dem Zukunftsbild von Miller Reese Hutchison, der nicht auf eine Gesellschaft hinarbeitet, in der alle Menschen gleich sind oder es keine Behinderungen mehr gibt, sondern eine Gesellschaft, in der Varianz und Vielfalt akzeptiert und als natürlich angesehen wird. In dieser Gesellschaft muss es das Wort „Behinderung“ nicht mehr geben. Nicht, weil es keine körperlichen oder geistigen Einschränkungen mehr gibt, sondern weil sich durch die äußeren und gesellschaftlichen Einflüsse niemand mehr behindert fühlen muss.

EarLens - Das Bild des modifizierten Menschen

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Gegenwärtig befindet sich das „Ear Lens“-System in der klinischen Testphase. Es besteht aus einem Wandler, der direkt auf dem Trommelfell befestigt ist sowie einem hinter dem Ohr befindlichen Empfänger und Sender. Dieses überträgt mit Laserstrahlen die Signale direkt an den Wandler, welcher sie in Vibrationen umwandelt und auf das Trommelfell überträgt. Der Vorteil des ohne Operation anbringbaren Systems ist ein erheblich erweiterter Frequenzbereich im Vergleich zu herkömmlichen Hörgeräten (vgl. Q3). Forscher*innen träumen von einer Zukunft, in der Träger*innen mit Hilfe solcher Linsen sogar über den menschlichen Frequenzbereich hinaus hören können.

Die EarLens führt uns zum Zukunftsbild des modifizierten Menschen. Seit jeher strebt die Menschheit nach Leistungssteigerung bis an die Grenzen des möglichen und darüber hinaus. Technischer Fortschritt macht den Wunsch greifbar, mithilfe von Modifizierungen den menschlichen Körper weiter zu „optimieren“. Das Einbauen technischer Hilfsmittel in den menschlichen Körper, wie in eine Maschine, beginnt zunächst mit der Intention, geschwächte oder fehlende Körperfunktionen auszugleichen. Mit Fortschritt und Innovation kommt jedoch die Möglichkeit hinzu, die Körperfunktionen über das menschliche hinaus zu optimieren. Dann würde die EarLens nicht nur den menschlichen Frequenzbereich hörbar machen, sondern das Gehör der Träger*innen so sehr schärfen, dass die Hörfähigkeiten mit denen eines Hundes vergleichbar werden. Vielleicht wird es möglich sein, in noch extremerer Form als bisher das Gehörter zu selektieren. Was möchte ich hören und was nicht? Problematisch wird diese Entwicklung, wenn nicht geregelt ist, wer Zugriff und Verfügungsgewalt über diese Daten hat. Wenn Konzerne oder politische Organisationen analysieren, welche Dinge du dir selektiert anhören möchtest oder womöglich sogar Zugriff auf das Gehörte haben. Dieses Thema soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden.

In dem Zukunftsbild der EarLens sind alle Krankheiten und Behinderungen durch technische Gadgets heilbar. Das Ziel ist es, dem Menschen ein möglichst langes, gesundes Leben zu ermöglichen. Die Vorstellung vom Paradies zeichnet somit letzten Endes das Bild des ewig lebenden Menschen.

Beim Zukunftsbild des modifizierten Menschen hatte ich persönlich direkt Bilder von menschlichen Cyborgs im Kopf. Menschen mit Exoskeletten, künstlichen Körperteilen und in den Körper operierten Gadgets. Im Gegensatz dazu ist die EarLens noch unsichtbarer als herkömmliche Hörgeräte. Zusätzlich zum Zukunftsbild des modifizierten Menschen unterstützt die EarLens also auch das Bild einer Gesellschaft, in der Behinderungen nicht auffallen.

Zukunftsbilder im Medical Design

Die Zukunftsbilder, die ich beim Design von Hörgeräten beobachten konnte stehen repräsentativ für die Hintergründe vieler gestalterischer Entscheidungen, die in der Medical Design Branche getroffen werden. Egal ob im Umgang mit Patient*innen, Angehörigen oder Menschen mit Behinderung: Schamgefühle und Angst vor den Reaktionen der Außenwelt sind sehr präsent. Genauso wie die Frage, wie man damit umgehen kann. Ich habe in meiner Analyse bereits erläutert, inwiefern Design aktiv Einfluss auf die zukünftige Entwicklung einer Gesellschaft haben kann, indem es entweder als Vorreiter auftritt oder eingefahrene Verhaltensmuster weiter unterstützt. An einigen Beispielen aus der Branche möchte ich nun belegen, wie diese Prozesse funktionieren können.

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Ein Aspekt, den ich bisher ausgespart habe, ist der ökonomische Teil von Produktdesign. Auch im Medical Design spielt die Finanzierung der Produktion, sowie der Preis im Verkauf eine entscheidende Rolle. Die Hersteller der Produkte müssen Gewinn machen, aber die Produkte müssen gleichzeitig in der Lage sein, ihre Zielgruppe zu erreichen. In Deutschland werden viele medizinische Leistungen von den privaten oder gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Es liegt jedoch auch in deren Interesse, so wenig Geld wie möglich auszugeben, weshalb günstige medizinische Produkte grundsätzlich marktfähiger sind. Logisch. Häufig wird Innovation dadurch ausgebremst, dass die Produkte, die eigentlich für die Patient*innen wesentlich besser wären, zu teuer wären. Dass sich Designer*innen von diesen Umständen nicht entmutigen lassen sollten zeigt z.B. der Hersteller PARI.

PARI produziert Inhaliergeräte, die zur Therapie von Atemwegserkrankungen eingesetzt werden. Diese waren bis vor wenigen Jahren relativ laut, sperrig und abhängig von Steckdosen. Innovation brachte ein akkubetriebenes Gerät, das jedoch aus Kostengründen nicht von Krankenkassen mitfinanziert wurde (vgl. Q6). Das Gerät wurde trotzdem auf den Markt gebracht und Innovation setzte sich gegen den Preis durch, als Patient*innen das Produkt auf Grund seiner Optimierung aus eigener Tasche zahlten. Mittlerweile übernehmen die Krankenkassen auch das etwas teurere Produkt, weil es den Nutzenden eine bessere Hilfe im Alltag ist. Der Wunsch nach zufriedenen, gesunden Kund*innen hat sich über die ökonomischen Faktoren durchgesetzt.

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Dass Design außerdem das Stigma von medizinischen Produkten grundlegend verändern kann sieht man am Beispiel von Brillen. Auch diese sind grundsätzlich erst einmal Hilfsmittel für Sehschwächen. Früher, als es nur wenige Modelle gab, wurden Menschen mit Brillen häufig Opfer von Beleidigungen oder Hänseleien. Heute gelten sie als modische Accessoires, sind in unzähligen Modellen, Farben und Formen erhältlich und werden sogar von Menschen ohne Sehschwäche getragen.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich gerade bei Zahnspangen beobachten. Als ich mit zehn Jahren meine erste Zahnspange bekam, konnte ich zwar schon zwischen verschiedenen Farben wählen, jedoch war das Produkt weit weg von einem modischen Accessoire, das ich gerne getragen hätte. Zehn Jahre später sind Brackets durch Social Media normalisiert worden. Mein Bruder fand es gar nicht schlimm, als er, wie seine Idole auf Instagram, seine Brackets bekommen hat. Es gibt sogar Filter, mit denen man sich virtuell die Zahnkorrektur in den Mund projizieren lassen kann. Diese Entwicklungen sind noch nicht am ende und müssen sicherlich auch noch einige Rückschritte in Kauf nehmen. Gerade bei Zahnspangen wird immer noch versucht diese zu verstecken. Durchsichtige Zahnschienen sind gerade wieder im Trend und werden auf allen gängigen Plattformen beworben. Grundsätzlich geht der Trend jedoch zu einem offensiven Umgang mit Zahnspangen.

Ich würde mir eine ähnliche Entwicklung auch für andere Bereiche des Medical Designs wünschen, z.B. eben bei Hörgeräten. Nun muss fairerweise erwähnt werden, dass von Sehschwächen und Zahnfehlstellungen auch mehr Menschen betroffen sind, als von Hörbehinderungen, doch geht es mir vielmehr um die Vermittlung eines Menschenbildes, das von Vielfalt geprägt ist und körperliche oder seelische Varianz nicht als Schwäche auslegt.

Mein eigenes Zukunftsbild

Als ich mit 16 Jahren die Diagnose AVWS erhielt und im Zuge dessen damit begann Hörgeräte zu tragen, kam ich zum ersten Mal bewusst mit Medical Design in Berührung. Das Thema faszinierte mich in zweierlei Hinsichten: Ich erlebte, wie Technik und Gestaltung mir eine neue Lebensqualität schenkten. Durch meine Hörgeräte konnte ich, wie nie zuvor, an alltäglichen Konversationen, auch in lauteren Umgebungen, teilhaben, mich besser konzentrieren und allgemein besser kommunizieren. Dass so kleine Geräte für mich einen so großen Unterschied machen konnten, fühlte sich ein bisschen an wie Magie. Zuvor war mir nicht bewusst wie „intelligent“ Hörhilfen inzwischen sind. Meine Computerchips waren beispielsweise darauf programmiert, Sprache in meiner Umgebung für mich zu filtern und Störgeräusche auszublenden.

Im krassen Kontrast zu meiner neugewonnen Freiheit im Alltag stand meine Entscheidungsfreiheit in Bezug auf Farbe oder Form der Geräte. Die Form war für alle Menschen mit Hörbehinderungen die gleiche und Farboptionen gab es genau zwei. Silber oder Bronze. Im Beratungsgespräch wurde mir zu den bronzefarbenen Geräten geraten, da diese in meinem braunen Haar diskreter sein würden.

In meiner Probephase, in der ich verschiedene Einstellungen für meine Geräte bei meinem Akustiker testete, erlebte ich oft die negativen Auswirkungen des diskreten Designs von Hörgeräten. Meine Termine verzögerten sich häufig, weil das Ein- und Aussetzen der Geräte besonders älteren Menschen Schwierigkeiten bereitete. Ich wurde Zeugin, wie mein Akustiker bis zu 30 Minuten die Bedienung der Geräte erklären musste und Patient*innen die Überforderung deutlich anzusehen war. Ich habe mich damals schon gefragt, warum es keine größeren, haptisch leichter zu bedienende Geräte für Menschen mit feinmotorischen Einschränkungen gibt.

Durch meine Analyse sehe ich mich in der These bestätigt, dass Schamgefühle für die eigene „Unzulänglichkeit“ und Angst vor negativer Außenwahrnehmung treibende Faktoren für diese gestalterische Entscheidung waren. Ich selbst bin dankbar dafür, nie Diskriminierung oder Abneigung auf Grund meiner Störung erlebt zu haben. Ich durfte vielmehr erleben, wie die Menschen, die ich über meine Diagnose aufklärte, sensibler auf meine Bedürfnisse reagierten und Verständnis entwickelten. Meine eigenen Erfahrungen ließen mich hinterfragen, inwiefern Gestaltung im medizinischen Bereich eine Rolle spielen kann. Je mehr ich mich mit der Thematik auseinandersetzte, desto mehr wollte ich in diesem Bereich wirken und durch Design einen positiven Einfluss auf den Alltag von Menschen haben, die in solchen Prozessen schnell vernachlässigt oder vergessen werden. In meinem bisherigen Studienverlauf an der Fachhochschule Potsdam konnte ich bereits an zahlreichen Medical-Design-Projekten arbeiten. Mit der Frage, nach welchem Zukunftsbild ich eigentlich gestalte, habe ich mich erst durch diese Analyse richtig auseinandergesetzt.

Ich kann abschließend für mich sagen, dass ich Design als Vorreiter für Veränderung verstehen möchte. Ich halte eine Zukunft für erstrebenswert, in der die Gesellschaft für die Vielfalt des Menschen sensibilisiert ist und diese akzeptiert. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, die sich im Laufe des Lebens verändern oder verlagern können und das ist ganz normal. Meine Recherchen zu diesem Thema haben mir jedoch auch gezeigt, dass es wichtig ist den Jetzt-Zustand mit in die Gestaltung einzubeziehen. Medizinische Hilfsmittel ausschließlich mit dem Bild der bereits gewandelten Gesellschaft zu designen und sie von jetzt auf gleich bunt und auffällig zu gestalten wird sehr wahrscheinlich nicht gut angenommen werden. Die Ängste und Schamgefühle sind noch immer in den Köpfen der Menschen. Aber Entwürfe wie Facett-Hearing von Leah Heiss zeigen, dass kleine Schritte den Weg in die gewünschte Richtung weisen können. Die Geräte sind nicht auffälliger als vorher, sie sind jedoch anders geframt. Nämlich als schönes Accessoire statt als etwas, das es zu verstecken gilt. So kann ein langsamer Wandel geschehen und Design als Vorreiter fungieren.

Ich habe seit Beginn meines Studiums mit den Methoden des Human Centered Designs gearbeitet und möchte auch in Zukunft an diesen festhalten. Der Mensch wird für mich persönlich immer im Fokus der Gestaltung stehen. Zwar lassen sich ökonomische Faktoren aus dieser Rechnung nicht ausklammern, jedoch denke ich, dass sich diese ebenfalls durch gute Gestaltung beeinflussen lassen. Ich träume von einer inklusiven Zukunft, in der sowohl die Patient*innen als auch die Menschen in deren Umfeld mitbedacht werden. Dafür sollen auch in Zukunft meine Entwürfe stehen.

Quellenverzeichnis

Q1: Audiologist; Webseite Stand: 15.12.2022; Autor: Neil G. Bauman; zuletzt bearbeitet: 09. Juni 2021

Q2: Facett; Webseite Stand 12.01.2022; Autorin: Rima Sabima Aouf; zuletzt bearbeitet: 10.10.2018

Q3: EarLens; Webseite Stand: 12.01.2022; Inhalte: Earlens Corp; zuletzt bearbeitet: 2022

Q4: hearingaidmuseum.com Webseite Stand: 15.12.2022; Autor: Hugh Hetherington; zuletzt bearbeitet: 2012

Q5: Kind.de; Webseite Stand 19.12.2022; zuletzt bearbeitet: Dezember 2021

Q6: Pari.de ; Webseite Stand: 13.01.2023; Autorin: Andrea Zapf ; zuletzt bearbeitet: 2022

Q7: Wikipedia - Miller Reese Hutchinson; Webseite Stand: 12.12.2022; zuletzt bearbeitet: 11 Januar 2022, 19:56 Uhr

Ein Projekt von

Fachgruppe

Theorie

Art des Projekts

Studienarbeit im zweiten Studienabschnitt

Betreuung

foto: Prof. Dr. phil. Rainer Funke foto: Prof. Volker von Kardorff

Zugehöriger Workspace

Zukunftsbilder im Design – Umzug ins Offene

Entstehungszeitraum

Wintersemester 2022 / 2023

Keywords