In seiner Funktionalität auf die Lehre in gestalterischen Studiengängen zugeschnitten... Schnittstelle für die moderne Lehre
In seiner Funktionalität auf die Lehre in gestalterischen Studiengängen zugeschnitten... Schnittstelle für die moderne Lehre
Machen Sie mal ’ne App! Wie die Digitalisierung von Unfällen mit Bagatellschäden zu grundlegenden Fragen führte.
Text: Prof. Reto Wettach
Im Sommer 2020 kam ich mit Ulrich Wiesicke, dem Verantwortlichen für die strategische Ausrichtung des Bürgerportals (www.polizei.brandenburg.de) sowie der PolizeiApp im Brandenburgischen Innenministerium, zusammen. Thema unseres Gespräches war die Frage, wie die Digitalisierung den Polizeialltag unterstützen kann. Nach kurzem Brainstorming kamen wir zu dem Schluss, dass die selbstständige Unfallaufnahme durch den bzw. die Unfallbeteiligten bei Bagatellunfällen nicht nur dem/der Bürger*in lange Wartezeiten ersparen kann, sondern auch bei der Polizei substanziell zu Zeiteinsparungen führen würde. Dies wäre mit dem Effekt verbunden, dass die im Rahmen der Unfallaufnahme von Bagatellen gesparte Zeit in anderen Bereichen investiert werden kann.
So haben Herr Wiesicke und ich gemeinsam ein dreiwöchiges Innovationsprojekt aufgesetzt, in dem wir gemeinsam mit Studierenden des Studienganges Interface Design untersucht haben, wie eine solche digitale Unterstützung der Unfallaufnahme aussehen könnte. Methodisch sind wir hier “user-zentriert” sowie agil vorgegangen und haben sowohl Unfallbeteiligte als auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Einsatz- und Lagezentrums der Polizei sowie Lehrkräfte des Bereichs Verkehrslehre der Hochschule der Polizei interviewt. Ideen wurden in zwei einwöchigen Sprints ausgearbeitet. In den Sprints wurde jeweils eine Idee ausgearbeitet und formlos mit Nutzern und Nutzerinnen getestet.
Die Ergebnisse dieser Exploration zeigen, wie divers die Lösungsstrategien aussehen können und welche strategischen Fragestellungen innerhalb der Polizei beantwortet werden müssen, um den Bürger*innen eine zeitgenössische Erfahrung zu ermöglichen.
Das Team “RITP” hat sich mit einem mobilen online-Formular für die Unfall-Erfassung beschäftigt, das den Unfallbeteiligten Schritt für Schritt durchführt und dabei stets anzeigt, wie viele Schritte noch vor ihm bzw. ihr liegen.
Wichtig war diesem Team, dass technisch alles im Browser stattfindet - und nicht in einer App, die man entweder erst installieren muss oder - basierend auf einer Werbekampagne - eventuell schon installiert hat, allerdings im Falles eines Unfalls nicht mehr erinnert.
Interessant an dem Konzept dieses Teams war außerdem, dass nur das Notwendigste an Ort und Stelle eingegeben werden muss; Details können später, zuhause, eventuell am etwas bequemeren PC, nachgetragen werden.
Das Team “Hey! Passiert…” hat sich damit beschäftigt, wie ein hybrides System aus Interaktion mit einem/r Mitarbeiter*in der Polizei und der Chatbot-ähnlicher selbstständiger Bearbeitung durch den/die Unfallbeteiligten aussehen könnte: das System wechselt nahtlos zwischen beiden Möglichkeiten hin- und her:
Hat ein/e Unfallbeteiligte/r die 110 gewählt und im Telefonat wurde klar, dass es sich um einen Bagatellschaden handelt, den der/die Unfallbeteiligte selbstständig bearbeiten kann, bekommt diese/r ein Link zu einer browser-basierten Chatbot-Anwendung, die schon alle am Telefon übermittelten Informationen bereithält.
Kommt der Nutzer bei der Eingabe ins Stocken oder bittet aktiv um Unterstützung, schaltet sich ein/e polizeiliche/r Mitarbeiter*in dazu, der bzw. die direkt dort weitermacht, wo die Eingabe durch den/die Nutzer*in aufgehört hat.
Dieses Wechselspiel zwischen Mensch und Software schafft wichtiges Vertrauen in das System, das speziell in Stress-Situationen wie nach einem Unfall wichtig ist - wie erste formlose Nutzertests ergeben haben.
Natürlich ist es nur möglich, diese nahtlose Erfahrung zu gewährleisten, wenn der/die Mitarbeiter*in in einem entsprechenden Interface alle relevanten Informationen auf einen Blick erfassen kann. Entsprechende Systeme sind aber heute off the shelf erhältlich und werden schon vielfach eingesetzt, z.B. in Call-Centern.
Den Gedanken von Chatbots konsequent weitergedacht hat das Team “WhatsUpCop”: Dieses Team fordert, dass die Polizei dort sein soll, wo die Bürger und Bürgerinnen sind, nämlich auf Whatsapp, der beliebtesten App in Deutschland mit über 33 Mio. Nutzer*innen. Weitere Vorteile dieser Idee: Die Nutzer*innen sind vertraut mit allen Interaktionselementen in dieser App. Außerdem beschränken sich die Kosten der Entwicklung auf die Programmierung des Chatbots; es muss nicht noch eine Webseite oder eine App programmiert werden.
Allerdings ist Whatsapp unter den aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen in der EU für solche Anwendungen nicht zugelassen.
Eine kleine Seitenidee dieses Teams ist ganz sympatisch: einen Duftbaum (für das Auto), bedruckt mit dem QR-Code für diesen Service!
Das Team “accidently” hat die Idee der menschlichen Fernunterstützung bei der Unfallaufnahme noch einen Schritt weitergedacht: Inspiriert von aktuellen Identitätsprüfungsverfahren, wie sie beispielsweise bei Online-Kontoeröffnungen durchgeführt werden, schlägt dieses Team ein System vor, dass auf Video-Konferenz mit dynamischen Eingabefeldern basiert.
Hauptargument für das Format Video-Konferenz ist die Tatsache, dass Unfälle für viele Menschen einen außerordentlichen Stress bedeuten. In solchen Situationen kann das persönliche Gespräch mit einem empathischen Menschen sehr hilfreich sein. Spätestens seit Corona ist die Akzeptanz und Fähigkeit, Video-Konferenzen durchzuführen, stark gestiegen in der Bevölkerung.
Die Eingabefelder beschleunigen die Unfallaufnahme, teilweise durch automatisierte Erfassung von Daten wie zB durch GPS, aber auch durch die Unterstützung der Kommunikation, wie beispielsweise durch ein einfaches Zeichenprogramm, dass speziell für Unfälle designed ist.
Interessante Überlegung aus diesem Team: Eventuell kann die Unfallaufnahme auch ausgelagert werden an ein Startup, das dafür entweder von der Polizei oder von Versicherungen (oder von beiden) bezahlt wird.
Das Team “CareDrive” hat sich mit der Problematik beschäftigt, dass Notfallapps nicht wirklich funktionieren, weil die Nutzer*innen sich in Notfallsituationen häufig nicht daran erinneren, dass sie sich eine passende App installiert haben. Daher schlägt dieses Team vor, die Unfall-Aufnahme zu integrieren in eine - zuweilen auch unterhaltsame - Autobesitzer*innen-App, die Autobesitzer*innen hilft, ihr Auto zu warten und sich sicher auf der Straße zu fühlen. Diese App sollte regelmäßig benutzt werden und könnte Features beinhalten wie beispielsweise die Erinnerung an den nächsten Wartungs- bzw. TÜV-Termin, Quizze zu Verkehrsfragen, aber auch alle wichtigen Unterlagen wie Führerschein, Versicherungsnummer oder Fahrzeugpapiere. Innerhalb dieser App könnte die Unfallaufnahme ein Feature sein, das natürlich leichter zu bedienen wäre, weil viele der notwendige Daten schon bekannt wären.
Das Team hat richtig erkannt, dass so eine App idealerweise in Partnerschaft mit anderen Stakeholdern (wie Medienhäusern oder Autowerkstätten) zu etablieren wäre, b.z.w. dass die Polizei eventuell gleich “nur” ein Feature anbietet, das in schon existierende Autobesitzer-App integriert werden könnte.
Einen radikal neuen Gedanken hat das Team “RePo 2.0” eingebracht: sie fordern die Übertragung des Konzeptes des Revier-Polizisten (in Brandenburg “RePo” genannt) in das digitale Zeitalter. Jede/r Bürger*in soll seinen persönlichen Ansprechpartner bei der Polizei haben. In den siebziger Jahren wurden in mehreren Bundesländern sog. “Kontaktbereichsbeamten” etabliert, um mehr Bürgernähe zu etablieren und den Servicegedanken der Polizei mit Leben zu füllen. Dieses Konzept des persönlichen Ansprechpartners ist im kommerziellen Kontext durchaus üblich wie beispielsweise bei Banken oder bei Online-Herrenausstattern wie outfittery. Dank zeitgenössischen Softwaretools wie CRM (Customer Relationship Management) kann der Aufwand für den/die einzelne Mitarbeiter*in der Polizei minimiert werden.
Eine interessante Beobachtung aus dem User Research dieses Teams ist, dass Bürger und Bürgerinnen Polizisten mehr vertrauen, wenn sie Gemeinsamkeiten feststellen, z.B. wenn beide türkischer Abstammung sind oder der beide der LGBTQ-Community angehören. Ob allerdings eine Tinder ähnliche Suche nach dem persönlichen Ansprechpartner zur Kultur der Polizei in Brandenburg passt, ist sicherlich noch zu diskutieren, unterstützte aber die Radikalität in diesem Entwurf.
Interessant war eine weitere Idee innerhalb des Teams Team: ganze Gesprächsverläufe können unwiderruflich gelöscht werden, was Fragen ohne juristische Konsequenzen ermöglicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser User-Research ergeben hat, dass eine selbstständige Unfallaufnahme durch den bzw die Unfallbeteiligten heute nicht nur möglich wäre, sondern von den Bürger und Bürgerinnen auch gewünscht bzw nahezu erwartet wird. Allerdings sind im Vorfeld einige strategische sowie rechtliche Fragen zu klären und entsprechende Schnittstellen zu den aktuellen IT-Systemen der Polizei zu programmieren.
Großen Dank an Herrn Wiesicke, Frau Franz und Herrn Remus von der Polizei Brandenburg sowie an folgende Studierende:
Aleksandra Wingert, Leo Weinreich, Sascha Höver (RITP), Jonas Englich, William Schmidt, Felix Kalkuhl (Hey! Passiert…), Carl Linz, Silas Wolf (accidently), Luka Saje, Chiara Kooijmans, Sabrina Hartwig (CareDrive), Nina Zeisler, Hanne Dahlmann, Omar Felix Faber (RePo 2.0), Georg Bagdenand, Franziska Hagen, Hans Moritz Herrmann (WhatsAppCop)