In seiner Funktionalität auf die Lehre in gestalterischen Studiengängen zugeschnitten... Schnittstelle für die moderne Lehre
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Nomadische Plakate: Flusser und der seltsame Schwindel des Freiseins
Mit Essays der erstmals 1993 publizierten Textsammlung Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design lässt Vilém Flusser die Designszene in Deutschland bereits in den 80er Jahren aufhorchen. Als jüdisch-tschechischer Exilant erlebt er 1939 die Bodenlosigkeit. Als Ausgangspunkt flusserscher Überlegungen manifestiert sich ein seltsamer Schwindel des Freiseins, dessen Ambivalenz auch auf Flussers Designverständnis übertragbar ist. Im Rahmen seines hundertjährigen Jubiläums 2020 soll eine nomadische Plakatreihe entstehen, denn die Bewegung im Sinne einer ähnlich seltsamen Dichotomie des Sesshaften und Nichtsesshaften ist stets zentraler Begriff Flussers dialogischen Denkens. Einerseits stillstehend und andererseits bewegt, bietet sich das Medium des animierten Plakats für einen Versuch an, um sich Flussers Designverständnis zwischen zwei gegensätzlichen Momenten anzunähern.
With essays from the text collection The Shape of Things: a Philosophy of Design, first published in 1993, Vilém Flusser made the design scene in Germany sit up and take notice as early as the 80s. As a Jewish-Czech exile, he experienced the bottomlessness in 1939. A strange vertigo of freedom manifests as the starting point for Flusser's considerations, which ambivalence can also be transferred to Flusser's understanding of design. As part of its centenary in 2020, a nomadic poster series is to be created, because movement in the sense of a similarly strange dichotomy of sedentary and non-sedentary is always the central concept of Flusser's dialogical thinking. Standing still on the one hand and moving on the other, the medium of the animated poster lends itself to an attempt to approach Flusser's understanding of design between two opposing moments.
Ganz im flusserschen Sinne soll über den Dialog mit verschiedenen Persönlichkeiten der Designszene die Frage nach der heutigen Gültigkeit seiner Designthesen gestellt werden. Ziel dieser Arbeit ist es, Flussers ambivalentes Designverständnis zwischen Befreiung und Betrug nachzuvollziehen und sich der Frage nach dessen Aktualität über den Dialog zu nähern.
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Untersuchung des ambivalenten Schwindel des Freiseins und somit die Bodenlosigkeit als zentraler Begriff Flussers Denken. Sie ist gleichzeitg Charakteristikum seiner Persönlichkeit und seines Wesens, was einer Arbeit im Rahmen seines hundertjährigen Jubiläums angemessen schien. Diese Untersuchung konnte auf Flussers Designbegriff übertragen werden, um hier ähnliche Ambivalenz und Gegensätzlichkeit festzustellen. Es fand der Versuch statt, sich im flusserschen Sinne über den Dialog und mittels Interviews der Aktualität dieses Designverständnisses anzunähern.
Der jüdisch-tschechische Philosoph Vilém Flusser lebt in der Bodenlosigkeit: 1920 geboren, verlässt der gebürtige Prager als Neunzehnjähriger 1939 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten die Tschechoslowakei. Seine Familie wird in den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz ermordet. Flusser und seine Frau Edith fliehen 1940 über England nach Brasilien, wo Flusser zweiunddreißig Jahre lebt. Als sich in Brasilia die Militärs an die Macht putschen, flüchtet er 1972 erneut und kehrt nach Europa zurück, lebt zunächst im Norden Italiens, dann in der Schweiz und beinahe zwanzig Jahre in Südfrankreich. Ab 1984 unternimmt Flusser Vortragsreisen in die ganze Welt, die ihn auch immer wieder in den deutschen Sprachraum führen (1).
In der Einleitung seiner philosophischen Autobiographie Bodenlos stellt er sich als einen wurzellosen, absurden Menschen ohne Grund und Boden dar (2). Seine Flucht aus Prag erlebt Flusser als „einen Zusammenbruch des Universums.“(3) Die Bodenlosigkeit — zentraler Begriff in Flussers Philosophie — ist ambivalent. Zum Ersten ist er negativ belastet, weil man den Boden los ist, man ist heimatlos, wurzellos. Doch obwohl Bodenlosigkeit stets mit Tragödie einher geht, schreibt Flusser, dass sie ihm gleichzeitig das Gefühl einer nie gekannten Freiheit vermittle. Es ist ein „seltsamer Schwindel der Befreiung und des Freiseins.“(4) Im Bruch mit den Bindungen zu Heimat liegt eine „Befreiung von Sesshaftigkeit und ein Eintauchen in das Nomadentum.“(5) Nach dem Zerschneiden auferlegter Fasern — denn jeder Mensch ist unfrei in die Welt geworfen — können diese nun selbst neu und frei geknüpft werden.
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(1) Vgl. Guldin, Rainer: Vilém Flusser (1920-1991). Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Bielefeld: transcript Verlag. 2017, S. 9
(2) Vgl. Flusser, Vilém: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Berlin: Fischer Taschenbuch., 1999, S. 9
(3) ebd.
(4) ebd.
(5) Seligmann-Silva, Márcio: Nomadentum. In: Zielinski, Siegfried / Weibel, Peter / Irrgang, Daniel (Hg.): Flusseriana. An Intellectual Toolbox. Minneapolis: Univocal Publishing. 2015, S. 305
1993 erscheint Flussers essayistische Textsammlung Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, in der er mit Zukunftsvisionen seiner Zeit vorausdenkt. Aus Flussers kritischen Beobachtungen resultiert ein ambivalentes Designverständnis. Es manifestiert sich hier ähnliche Dichotomie eines seltsamen Schwindels.
Design ist Befreiung und Betrug, da es Ausdruck des Menschseins ist, und „Menschsein ein Design gegen die Natur ist.“(6) Wie die Bodenlosigkeit ist Flussers Designverständnis durch Ambivalenz geprägt. Design ist ein Zustand, der gleichzeitig zwischen Zwang und Befreiung schwankt.
Flusser schreibt, dass jemand, der entwirft, auch anderen Hindernisse in den Weg wirft.(7) Design und die von ihm hervorgebrachten Dinge stellen für Flusser Kulturerzeugnisse dar, deren ursprünglicher Zweck ist, den Menschen von seinen Naturbedingungen zu befreien. Letztendlich jedoch beschränken diese Dinge den Menschen noch mehr und liefern Zeugnis eines Unvermögens. Sie sind Zeugnis einer Kultur von wahrscheinlich noch nie dagewesener Unbrauchbarkeit. Hier zeigt sich die Ambivalenz des Designs, denn es ist Hindernis zum Abräumen von Hindernissen. „Dummes Zeug umgibt uns: plastische Füllfedern, elektrische Zahnbürsten, illustrierte Zeitschriften, Werbung im Fernsehen.“(8)
Menschen und Dinge sind einander Erfüllungsgehilfen. Es bedarf buchstäblich eines Gegen-Stands, um sich seiner selbst zu vergewissern. Flusser schlussfolgert, dass man sich den Dingen daher geradezu andiene ohne dem Wissen, wer hier eigentlich wen bedient. „Manche unter den Dingen in meiner Umgebung sind mir nicht ganz geheuer. Sei es, weil ich mich ihrer bedienen zu meinen scheine, (aber in Wirklichkeit weiß, dass ich sie bediene).“(9)
Auch bei von Borries ist zu lesen, dass Design entwerfen und gleichzeitig unterwerfen kann. Es ist somit von einer Gegensätzlichkeit geprägt, die gleichzeitig „Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Widerstand“(10) bedingt. Sie ist das Wesen von Design.
Flusser hat diese Ambivalenz durchschaut. Zudem ist es sein besonderes Anliegen, auf die Verquickung von Kultur und Design hinzuweisen.
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(6) Flusser, Vilém: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design. Göttingen: Steidl Verlag. 1993, S. 11
(7) ebd. S. 41
(8) Flusser, Vilém: Unsere Befürchtung. In: Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen. Zusammengestellt und bearbeitet von Volker Rapsch. Düsseldorf. Bollmann Verlag. 1990, S. 139
(9) Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen. München: Carl Hanser Verlag. 1993, S. 7
(10) von Borries, Friedrich: Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie. Berlin: Suhrkamp Verlag. 2018, S. 10
Der Dialog spielt in Flussers Denken eine entscheidende Rolle. In Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design denkt er über den Dialog als eine die Gestaltung betreffende Frage nach, in der er stärker betont werden sollte.(11) Über die Hälfte seiner Autobiographie Bodenlos besteht aus Dialogen, die er mit elf Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen teils mittels Briefwechsel führt.
Im Austausch mit verschiedenen Personen der Designszene ergaben sich kurze Kommentare zu Flusser und seinem Designverständnis in Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design. Jede am Projekt teilhabende Person bekam jeweils nur eine These Flussers vorgelegt mit Einladung, darauf zu reagieren. Es ist ein Versuch, sich der Frage nach dessen Aktualität und Relevanz über Dialog und Austausch zu nähern.
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(11) Flusser, Vilém: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design. Göttingen: Steidl Verlag. 1993, S. 41
Immer häufiger wird die Chance genutzt, das Medium Plakat, welches voerst nur starr existierte, um die Dimension der Zeit zu erweitern. Das liegt nicht zuletzt an immer neue technische Möglichkeiten und Anforderungen einer zunehmend digitalisierten Welt, die Gestalter und Gestalterinnen vor neue Herausforderungen stellen. Das Plakat löst sich von seiner statischen Form und weist über dessen materiellen Druckvariante eine animierte Form bis hin zu Augmented-Reality-Anwendungen auf. Bewusst eingesetzte Bewegung kann genau wie Typografie, Farbigkeit und Komposition eine Plakatidee unterstützen und einen „Mehrwert […]generieren, in dem die Möglichkeit genutzt wird, eine zweite Seite zu zeigen, […].“(12) Diese Bilateralität betreffend, eignet sich das bewegte Plakat, um einen Dialog zu visualisieren.
Für die Arbeit 100 Jahre Vilém Flusser. Nomadische Plakate erscheint besonders der gegensätzliche Zustand bewegter Plakate zwischen ihrer statischen und animierten Form interessant. So betont auch Bettina Richter im Rahmen eines Interviews zum Weltformat Graphic Design Festival im Jahr 2018: „Bewegte Plakate sind ein Widerspruch in sich.“(13)
Es soll eine bewegte Plakatreihe entstehen, denn die Bewegung im Sinne einer ähnlich seltsamen Dichotomie des Sesshaften und Nichtsesshaften ist stets zentraler Begriff Flussers dialogischen Denkens. Einerseits stillstehend und andererseits bewegt, bietet sich das Medium des animierten Plakats an, um sich Flussers ebenso ambivalenten Designverständnisses anzunähern. Die Animation der Plakate ermöglicht es, neben Flussers Thesen eine zweite informative Seite zu zeigen: Designer und Designerinnen kommentieren und reagieren auf Flussers Designbegriff. Das Projekt wird von der App Artivive begleitet, die mithilfe von Augmented-Reality-Technologie ein Wechselspiel zwischen gedruckten und digitalen Inhalten erprobt.
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(12) Höhborn, Aljoscha: Posters in motion (Dissertation, Kommunikationsdesign). unveröffentlicht, Fachhochschule Potsdam. 2019, S. 22
(13) ebd., S. 44
Raster
Die horizontale Zweiteilung der Arbeit weist zum einen auf Ambivalenz hin und zum anderen unterstreicht sie den dialogischen Charakter. Auch in einem Dialog gibt es immer mindestens zwei Seiten, die sich gegenüber stehen. Formal bietet sich die Zweiteilung an, um den Austausch zur Aktualität Flussers Designverständnisses abzubilden
Typografie
Das symbolische Experimentierfeld des Schreibens und des Textes ist für Flusser eine Welt, die er in der Bodenlosigkeit seiner Existenz als mögliche Heimat akzeptiert. Flusser lebt in seinen Texten, die er in der Regel auf mechanischen Schreibmaschinen tippte. Eine Schreibmaschine bildet Text aufgrund ihrer mechanischen Funktionsweise mittels einer nichtproportionalen Schriftart ab. Um trotzdem ein gleichmäßiges Schriftbild zu erhalten, wurde die Neue Machina von Pangram Pangram Foundry verwendet, die einer Monospace-Schrift anmutet, aber ein proportionales Schriftbild aufweist. Im Kontrast dazu sind die Gedanken von verschiedenen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern in der Akzidenz Grotesk gesetzt, die nicht weniger technisch, aber nüchterner anmutet. Mit ihrem sachlichen Erscheinungsbild spiegelt die erstmals 1898 von der H. Berthold AG herausgegebene Schrift die fortschreitende Mechanisierung und Veränderungen durch Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert wider — so spricht auch Flusser von Maschinen und ihren Hebeln, die die Welt aus den Fugen heben können.
Farbe
Sämtliches gesichtetes Material aus den Archiven erschien mir in Schwarz, Weiß und Graustufen — Videos, die meisten Fotos, aber vor allem Briefe, Notizen, Texte und Manuskripte.
Strukturen
Mehrmals gescannt, kopiert, gedruckt und vervielfacht, weisen Manuskripte technische Artefakte und Spuren auf. Ich habe eine Sammlung verschiedener Strukturen angelegt, aus denen sich gestalterisch bedient werden kann. In einigen Texten lassen sich sogar Flussers persönliche Bleistiftnotizen und Kritzeleien finden, die schließlich auf ihn zurückverweisen.
Bewegung
Flusser widmet seinem Arbeitswerkzeug Schreibmaschine in Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design ein ganzes Kapitel und fragt darin, warum die Schreibmaschinen eigentlich klappern. Flusser schreibt: „Das Klappern ist besser mechanisierbar als das Gleiten. Maschinen sind Stotterer, auch wenn sie zu gleiten scheinen.“(14) Nach ihm ist die Schreibmaschine ein Werkzeug, das „für das Anfertigen der dargestellten Linien […] des Schreibens programmiert ist. Sie läuft von links nach rechts, sie springt, […] wenn sie in der Ecke ankommt.“(15) In Anlehnung der hier von Flusser beschriebenen Bewegung des Schreibmaschinenschreibens laufen Texte von unten nach oben. Stotternd erscheint Wort für Wort, der Text baut sich von links nach rechts auf und springt in die nächste Zeile, wenn diese gefüllt ist.
„Ich bin nicht begeistert vom Film, meint Vilém Flusser in einem am 6. Oktober 1990 in Graz gehaltenen Interview.“(16) Mit dem algerisch-französischen Pionier der Videokunst Fred Forest pflegte Flusser allerdings eine äußerst produktive Freundschaft. So drehen sie 1974 im Vorgarten Flussers in Fontevrault das Video Les gestes du professeur über die Gesten des Professors, während dieser über Gesten spricht.(17) Anhand dieser Aufnahmen lässt sich ein Eindruck von Flussers Auftreten und Vortragsweise gewinnen, was oft als Performance beschrieben wird. Flusser pflegte einen leidenschaftlichen bisweilen energischen Gesprächsstil — stets mit ironischen und humorvollen Unterton.
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(14) Flusser, Vilém: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design. Göttingen: Steidl Verlag. 1993, S. 51
(15) Guldin, Rainer/Bernardo, Gustavo: Vilém Flusser (1920-1991). Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Bielefeld: transcript Verlag. 2017, S. 261
(16) ebd., S. 241
(17) ebd., S. 298
Kennwort: 100JahreVilemFlusser
Mit dem Vilém Flusser Archiv der Universität der Künste Berlin und der elektronischen Zeitschrift Flusser Studies im Austausch, baut die Arbeit auf die freundliche Unterstützung von Anita Jóri und Rainer Guldin auf.
Ich bedanke mich für die vielen Gespräche und den Austausch mit Klaus Dufke, Marion Godau, Mara Recklies, Jochen Rädeker, Franziska Morlok, Karoline Große, Uwe Loesch, Andreas Uebele, Miriam Neubauer, Rayan Abdullah, Friedrich Forssman, Anja Lutz und A—Z Berlin, Erik Spiekermann und Götz Gramlich.