In seiner Funktionalität auf die Lehre in gestalterischen Studiengängen zugeschnitten... Schnittstelle für die moderne Lehre
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Die Bachelorarbeit im Fach Interfacedesign beschäftigt sich mit Methoden und Prozessen zur ethischen Datenvisualisierung. Insbesondere geht sie der Frage nach, wie sich Daten zu historischen Gewalttaten in einer angemessenen Form raumzeitlich darstellen lassen. Die Arbeit baut dafür auf relevanten Diskursen aus Design, Visualisierung sowie Kartographie auf und analysiert gelungene Referenzprojekte. Als Fallbeispiel für den gestalterischen Teil der Arbeit kommt ein Datensatz über antisemitische Gewalttaten im Deutschland der 1930er Jahre zum Einsatz. Dieser wird unter anderem kartographisch und zeitlich visualisiert und in zwei Ausspielungen — einer Animation und einem Explorationsinterface — dargestellt.
The Interfacedesign bachelor thesis deals with methods and processes for an ethical approach to data visualization. In particular, it focusses on ways to visualize a dataset of historical acts of violence in an appropriate spatiotemporal way. In its theoretical part, the thesis discusses relevant ideas from the fields of design, visualization, and cartography, as well as a series of exemplary projects. The thesis uses a dataset about anti-semitic violence in 1930's Germany as a case study for its practical part. This data is visualized in cartographic and temporal representations and used in animation and an explorative interface.
Datenvisualisierungen (und die an ihnen arbeitenden Gestalter*innen) nehmen für sich gerne in Anspruch, Fakten neutral und objektiv wiederzugeben. Sie werden als vermittelnde und kommunikative Werkzeuge betrachtet, die in der Lage sind, komplexe Sachverhalte in einer verständlichen Art zu kommunizieren. Gerade diese Wirkmächtigkeit sollte Anlass zu Zweifeln geben. Wenn Datenvisualisierungen einen solch großen Einfluss haben können — sollten ihre Entstehungsprozesse dann nicht Kriterien folgen, die sicherstellen, dass sie ihre Macht ethisch ausüben? Und wer definiert in diesem Zusammenhang, was als „ethisch“ gilt?
Diese Arbeit geht von dem Standpunkt aus, dass es einer ethischen Praxis der Datenvisualisierung heute mehr denn je bedarf. Basierend auf dieser Annahme stellt sie sich die Frage, wie es gelingt, Visualisierungsprozesse anhand von klaren Leitlinien ethisch zu gestalten. Zudem fragt sie sich, wie Gestalter*innen im Rahmen eines solchen ethischen Designprozesses angemessene grafische Repräsentationen entwickeln können.
Die im theoretischen Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse werden in ihrem praktischen Part genutzt, um in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin eine angemessene Visualisierung über antisemitische Übergriffe im Deutschland der 1930er zu gestalten.
Im Rahmen der Arbeit wird ein Datensatz des Jüdischen Museums Berlin als Fallbeispiel genutzt. Dieser enthält Informationen zu 3.660 antisemitischen Gewalttaten in Deutschland zwischen 1930 und 1938.
Historiker*innen beschreiben die Ausbreitung antisemitischer Gewalt in den 1930er Jahren häufig als „wellenartig“. Drei Jahre — 1933, 1935 und 1938 — stechen dabei deutlich heraus. Das Jahr 1933 markiert mit der Machtergreifung der NSDAP und den damit einhergehenden Boykotten jüdischer Geschäfte den Beginn des institutionaliserten Antisemitismus. 1935 erreichen die Übergriffe gegenüber Jüd*innen ein weiteres Maximum, als die Nationalsozialisten mit den Nürnberger Gesetze gegen die staatsbürgerlichen Rechte von jüdische Bürger*innen vorgehen. Die Olympischen Spiele sorgten im Folgejahr für eine vorrübergehende Beruhigung der Situation, bevor die antisemitische Gewalt 1938 mit den Novemberpogromen eskalierte.
Der Datensatz umfasst Daten aus knapp 300 Quellen. Einzelne Einträge können sich auf eine oder mehrere Ziele von Übergriffen beziehen: Gewalt gegen Jüd*innen, gegen jüdische Institutionen oder Unternehmen jüdischer Inhaber*innen. Jeder Eintrag enthält Meta-Angaben, etwa zum Tatzeitpunkt, Opfern oder Tätergruppen.
Aufgrund der Art und des Umfangs des Rechercheprozesses des Datensatzes kann dieser nicht als vollständig angesehen werden. So ist etwa bekannt, dass er Großstädte strukturell unterrepräsentiert. Auch wurden Gewalttaten in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre oft nicht mehr verzeichnet und tauchen so nicht in den Quellen auf. Der Datensatz sollte darum als Momentaufnahme betrachtet werden, der einen Eindruck der antisemitischen Gewalt vermittelt, ohne den Anspruch zu erheben, ein vollständiges Bild zu zeichnen.
Im Rahmen der Case Study soll der beschriebene Datensatz für zwei konkrete mediale Anwendungen — eine Animation und eine Anwendung zur Exploration der Daten — visualisiert werden. Während die Animation linear und ohne Interaktionsmöglichkeit verläuft, bietet die Explorationsanwendung einen vertiefenden Blick in die Daten. Für beide Anwendungen stellt sich die Frage, wie die sensiblen historischen Daten angemessen dargestellt werden können.
Die Wurzeln kritischer und ethischer Kartographie reichen in die 1970er Jahre zurück. Kartographen wie Denis Wood, J. B. Harley und David Woodward diskutierten in diesen Jahren humanistische und kritische kartographische Praktiken. Diese Überlegungen mündeten in die Critical Cartography, die Kartographie als eine aktive, Wissen konstruierende Disziplin begreift. Kartograph*innen, Gestalter*innen und Künstler*innen stellen sind somit in der Lage, mit kritischen kartographischen Darstellungen vorherrschende Meinungen und Systeme in Frage zu stellen. Zu Beginn der 1990er Jahren entwickelten sich auf dieser Basis konkrete akademische Diskussionen um die Frage, wie eine ethische kartographische Praxis aussehen kann. Mark Monmonier und J. B. Harley definieren in diesem Zusammenhang eine Reihe von Leitlinien für ein solches ethisches Vorgehen. Hierzu zählen die Entwicklung eines Verantwortungsbewusstseins für das eigene kartographische Handeln, die Beachtung von Kontexten und Offenheit gegenüber anderen Disziplinen, eine Sorgfältige Aufbereitung und Auswahl von Datenquellen sowie die Offenheit gegenüber neuen grafischen Formen.
Edward Tufte und Alberto Cairo diskutieren, wie sich Informationen möglichst unverfälscht und ehrlich kommunizieren lassen. Tufte stellt hierzu unter anderem fest, dass es wichtig ist, die „Wahrheit über die Daten zu erzählen“, „visuelle Darstellungen von Zahlen proportional zu dem ihnen zugrundeliegenden Wert zu skalieren“ oder „Daten nicht außerhalb ihres Kontextes zu verwenden“.
Katherine Hepworth et. al. gehen einen Schritt weiter und diskutieren, unter welchen Umständen eine Visualisierung als ethisch gelten kann. Sie stellen in diesem Zusammenhang die Wirkung einer Visualisierung in den Mittelpunkt der Beurteilung. Auf dieser Basis entwickeln einen Ethical Visualization Workflow, der als Leitfaden für die ethische Gestaltung von Visualisierungen, insbesondere im Bereich der Digital Humanities, dienen soll. Dieser umfasst drei Phasen, die jeweils in mehrere Schritte unterteilt sind:
Der Vergleich ethischer Ansätze aus Kartographie und Visualisierung zeigt zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, die Autor*innen beider Felder anführen. Aus diesen Überschneidungen leitet die Arbeit einige Leitlinien für die Gestaltung ethischer Visualisierungen ab, die in der Folge auch im Gestaltungsprozesses berücksichtigt werden.
Kontext & Konsequenz. Designentscheidungen und -prozesse müssen in ihrem thematischen Kontext betrachtet und auf mögliche Wirkungen und Konsequenzen geprüft werden.
Betrachtung des gesamten Prozesses. Ethische Gestaltung umfasst nicht nur den eigentlichen Darstellungsprozess, sondern betrachtet den gesamten Prozess von der thematischen Konzeption bis zur Visualisierung. Die Entscheidung, welche Daten gezeigt oder nicht gezeigt werden, spielt hierbei eine besonders wichtige Rolle.
Interdisziplinarität und Kooperation. Ein ethischer Designprozess ist nicht von Designer*innen alleine durchführbar. Er bezieht Fachexpert*innen und potentiell Betroffene ein. Designer*innen stellen sicher, dass deren Meinungen und Interessen gehört und in der Gestaltung berücksichtigt werden.
Transparenz und inhaltliche Offenheit. Die einer Visualisierung zugrundeliegenden Datengrundlagen müssen verifizierbar und transparent sein. Kritik, Einwände, Anregungen oder Ergänzungen an der Datengrundlage, ihrer Interpretation und inhaltlichen Aussage werden gehört und berücksichtigt. Dieser Prozess ist auch nach der Veröffentlichung einer Visualisierung nicht abgeschlossen. Relevante inhaltliche Ergänzungen und Kritik werden auch in dieser Phase berücksichtigt.
Angemessene grafische Repräsentation. Die grafische Darstellung der Daten spielt eine besondere Rolle und muss sorgsam bedacht werden. Sie darf nicht verfälschend wirken, kann aber neuartige grafische Formen entwickeln, wenn dies notwendig erscheint. Die grafische Repräsentation wird auf mögliche unerwünschte oder unpassende Assoziationen überprüft.
Bei der Betrachtung der Leitlinien in ihrer Gesamtheit fällt auf, dass es sich weniger um konkrete gestalterische, als viel mehr um prozessuale Vorgaben handelt. Dieser Fokus liegt in der Tatsache begründet, dass die Frage, welche grafische Repräsentation für einen Datensatz angemessen ist, nur im Kontext eine konkreten Projektes beantwortet werden kann. Die Leitlinien geben somit keine direkte Hilfestellung für die visuelle Gestaltung einer Visualisierung. Sie sind vielmehr geeignet, als Framework in einem ethischen Designprozess die Rahmenbedingungen zu schaffen, die benötigt werden, um ein angemessenes Ergebnis zu erreichen.
Neben den theoretischen Ansätzen aus Kartographie und Datenvisualisierung werden auch konkrete gestalterische Beispielprojekte gezeigt, die als Referenz für den anschließenden Gestaltungsprozess dienen.
Sarah Campbell schlägt eine Taxonomie für „Techniques for Appealing to Emotion“ in Datenvisualisierungen vor. Dabei unterscheidet sie nach drei Intentionen. Unter Engage versteht Campbell Techniken, die durch sensorische Stimulation Interesse wecken (etwa U.S. Gun Deaths). Mit Humanize bezeichnet sie Techniken, die Menschen in abstrakten Daten sichtbar machen und diese interessanter werden lassen (etwa Casting Shakespeare). Techniken aus der Kartegorie Personalize erlauben es, Visualisierungen an persönliche Interessen oder Lebensumstände anzupassen, um sie zu individualisieren (etwa in Nuclear Weapons).
Michael Correll stellt fest, dass visuelle Abstraktionen zu einer Verringerung der Empathie für diejenigen Menschen führen können, die von den entstandenen visuellen Symbolen repräsentiert werden. Ihm zufolge müssen Designer*innen deshalb bei der Gestaltung von Visualisierungen darauf achten, die Wirkungsdistanz zwischen der Thematik und ihrer Repräsentation zu überwinden. Boy et. al. kommen in diesem Zusammenhang zum Schluss, dass anthropomorphe Formen (etwa Icons in der Form von Menschen) nicht mehr Empathie erzeugen, als abstraktere Symbole.
Zwei Designerinnen, die sich in ihrer praktischen Arbeit mit der Gestaltung von angemessenen grafischen Formen befassen, sind Giorgia Lupi und Sonja Kuijpers. Lupi und ihr Team setzen sich in ...Ma poi, che cos’è un nome? mit dem Schicksal von Jüd*innen in Mailand während der Zeit des italienischen Faschismus auseinander. Sonja Kuijpers' A View on Despair visualisiert Suizide in den Niederländen in Form einer abstrakten Landschaft. Auf diese Weise verschafft das Projekt diesem oft tabuisierten Thema eine angemessene Art der Aufmerksamkeit.
In einem Co-Design-Workshop wurden gemeinsam mit Fachexpert*innen drei Fragestellungen bearbeitet:
Welche Wirkung soll die zu gestaltende Visualisierung auf Betrachter*innen erzeugen? Zur Beantwortung wurden die Erwartungen der Expert*innen schriftflich festgehalten und in einem Brainstorming geclustert.
Welche visuellen Formen sind geeignet, um dieses Ziel zu erreichen? Ein Satz von möglichen visuellen Formen wurde diskutiert und auf ihre Eignung und Angemessenheit geprüft. Bei der Zusammenstellung der Formen wurde darauf geachtet, eine möglichst breit gefächerte Auswahl zu bieten.
Mit welchen inhaltlichen Interessen und Fokussen nutzen unterschiedliche Zielgruppen die Explorationsansicht? Um zu ermitteln, wie verschiedene Besucher/*innen die Explorationsansicht nutzen werden, wurden für eine Reihe von Personas Collagen mit möglichen Interessen und Handlungssträngen gestaltet.
Auf der Basis der Workshopergebnisse wurde der grundsätliche Aufbau und die visuellen Modelle der Visualisierung und der Anwendung geplant und konzipiert.
Auf Basis der grundlegenden Konzeption der Visualisierung wurden verschiedene visuelle Darstellungsmethoden für die Visualisierung erprobt. Die schlussendlich ausgewählte Variante zur Symbolisierung basiert auf einem dekonstruierten Davidstern. Die durch die Dekonstruktion entstandenen Achsen des Sterns symbolisieren die drei Übergriffsarten.
Für die Animation und die Explorationsansicht wurde der Einsatz verschiedener Schriften erwogen. Während für die Animation mit der FF Bauer Grotesk, der DIN 1451 Mittelschrift und der Tannenberg drei Schriften zum Einsatz kommen beschränkt sich das Explorationsinterface auf die JMB Pro, die Hausschrift des Museums.
Das Interface der Explorationsansicht ist dreiteilig konzipiert. Für seine farbliche Gestaltung wurden dunkle und helle Varianten in Betracht gezogen. Die finale Gestaltung wird in einer dunklen Variante ausgeführt.
Die Basisvisualisierung bildet das grundlegende visuelle Modell und definiert, wie die Daten grafisch codiert werden. Sie stellt so die Grundlage für die Gestaltung der Animation und des explorativen Interfaces dar.
Aufbauend auf der Basisvisualisierung wird eine animierte Form der Darstellung gestaltet. Diese baut die Visualisierung der Übergriffe in etwa zwei Minuten in historischen Abfolge von 1930 bis 1938 auf. Die Visualisierung wird in der Animation durch typografische Zusatzinformationen, etwa zu relevanten Orten, Todesopfern der Gewalt oder historischen Ereignissen, ergänzt.
Auch das Explorative Interface baut auf der Basisvisualisierung auf und ergänzt diese um weitere Visualisierungsperspektiven sowie Interaktionsmöglichkeiten. Der Datensatz lässt sich individuell visuell erkunden.
Die gesamte Arbeit steht als PDF (24 MB) zum Download zur Verfügung. Ein Video der Animation und weitere Details zum Explorationsinterface folgen mit der Präsenation der Arbeit in der Prüfungswoche im Januar 2020.