1. Projektbeginn und erste Dokumentation

Bereits vor Beginn des Seminars „Lagerungen: Flughafen Berlin-Tempelhof als Gegenstand ästhetischer Forschung“ hatte ich mir ein paar Gedanken zu möglichen Inhalten und Herangehensweisen gemacht und war überrascht, welche neuen Anstöße im Laufe des Semesters dazukamen. Da ich zu dem Zeitpunkt noch direkt am Tempelhofer Feld, dem ehemaligen Flughafengelände wohnte und manchmal bei Veranstaltungen in den Hangars des Gebäudes auf der Tempelhofer Seite gearbeitet hatte, dachte ich „das Feld“ vor allem als Ort zum Spazierengehen, Joggen, Nachdenken, Picknicken, Arbeiten.

Bei der Nachbereitung der ersten Ortsbegehung fotografierte ich einzelne Elemente wie Absperrungen, Bodenausschnitte, Sandgruben und Baustellenüberbleibsel, Pflanzen, Müll und auf dem Weg zum Treffpunkt das riesige Flughafengebäude aus Stein mit braunen Schildern aus der Alliiertenzeit. Im Verlauf des Seminars nutzte ich die Fotos immer wieder für Zwischenpräsentationen, sodass ich mich dazu entschied, mit eigenen Fotografien zu arbeiten. Die in Auseinandersetzung mit dem Ort Tempelhofer Feld/Flughafen Berlin-Tempelhof entstandene Arbeit „Tempelhof Matching System“ besteht aus einem Farbfächer und einem Poster mit ortsspezifischen Farbraster. Beide Objekte beschäftigen sich mit Farbe, Materialität und gefundenen Oberflächen, die in Form von extremen Nahaufnahmen assoziativ wirken und sich der Atmosphäre des Ortes annähern.

2. Inhaltliche Recherche und Hintergrund

Da das Projekt am Anfang noch nicht feststand und sich erst gegen Ende des Semesters herausbildete, las ich die Seminartexte zunächst etwas ziellos und markierte mir Stellen, die ich relevant fand. Später versuchte ich, Archivbesuche und Texte auf Projektideen hin noch einmal anzuschauen. Tatsächlich viel es mir stellenweise schwer, den Input auf mein persönliches Projekt zu filtern. Im Hinblick auf die NS-Geschichte des Ortes lieferten unter anderem der Text „Böse Orte“ von Stephan Porombka und Hilmar Schmundt sowie die Einsicht in das Archivmaterial zum ehemaligen Flughafen im Archiv Tempelhof-Schöneberg wichtige Informationen. Das Gebäude, das in den 1930er Jahren umgesetzt wurde und seiner Monumentalität den Ort in Bezug auf Farbe, Oberfläche und Materialität stark prägt, wollte ich mich damit beschäftigen. In einem Buch zur ästhetischen Forschung/Kunstvermittlung stieß ich auf die Aufgabe: „After Images. Write a Story about the Untaken Photograph that Haunts You.” (Terpstra 2020, S. 86) was mich eine Weile nicht losließ. Ich entschied mich, das Gebäude zwar nicht zum Hauptthema der Arbeit, jedoch indirekt mit einfließen zu lassen und weiterhin mit Fotos zu arbeiten.

Dabei halfen Texte wie „Lateral Thinking. Creativity Step by Step” von Edward de Bono, sich auf den Arbeitsprozess zu verlassen („lateral thinking is a more deliberate process”, in: Introduction S. 9) und ermutigten mich, alte Notizen immer wieder neu anzuschauen („rearrangement of available information“, in: Introduction S. 10). Rückblickend lesen sich handschriftliche Notizen, Incom-Beiträge und abgespeicherte Links zu Websites wie eine Art „Forschungstagebuch“, auf die ich während der Ausarbeitung zurückgegriffen habe. Auf den Fotos, die teilweise auch für das fertige Projekt genutzt wurden, sind alltägliche Dinge zu sehen. Teilweise identifizierbar, teilweise unverortet und unklar. In Bezug auf Robert Smithsons „A Tour oft he Monuments of Passaic, New Jersey” konnte ich, auf der Suche nach Motiven, unbedeutende Stellen und alltägliche Objekte aufsuchen und für die Arbeit nutzen (There was nothing really interesting or even strange about that flat monument […]“, S. 73.).

Inhaltlich bemerkte ich beim Durchsuchen der Fotos, Fragen und Zwischenpräsentationen, dass mich besonders Fragen nach Raum, Atmosphäre, Farbe und Materialität beschäftigten. Zur Eingrenzung beschloss ich, mich auf diese Fragen, die sich als roter Faden herausstellten, zu konzentrieren und nicht mit historischem Archivmaterial zu arbeiten,  sondern mich mit der Erscheinung des Ortes heute aus meiner Perspektive zu beschäftigen. Dem unscharfen Begriff „Atmosphäre“ nähert sich unter anderem Elisabeth Blum mit ihren sieben Thesen zu Atmosphäre. Dort behandelt sie die „[…] flüchtigen Räume der Vorstellung, der Erinnerung, der Assoziation.“ (Blum 2010) in Bezug auf Architektur. Dabei sei nicht nur der dreidimensionale Raum Teil der Raumerfahrung, „[…] sondern auch alle jene ‚räumlichen‘ Phänomene, die sich unmittelbar mit den alltäglichen Wahrnehmungen des Raumes verbinden: die zugehörigem Räume der Vorstellung, der Assoziation, der Erfahrung“ (ebd., S. 12). Bei der Herausbildung von Atmosphäre handele es sich um einen Prozess. 

Assoziation: 

Materialität – Oberfläche – Atmosphäre – Architektur

3. Das Projekt: Tempelhof Matching System

Die Arbeit „Tempelhof Matching System“ beschäftigt sich mit der ortsspezifischen Atmosphäre des Tempelhofer Feldes. Oft schwer greifbar und individuell wahrgenommen, bleibt sie vage. Sie scheint heute wie eine Mischung aus Materialität, Oberfläche und Farbe. Genau wie der Begriff Atmosphäre entzieht sich das Tempelhofer Feld jeglichen Einordnungsversuchen und verändert sich täglich. Über Nahaufnahmen von Oberflächen und Umgebung nähert sich das Projekt dem Raum an. Die Fotografien bleiben dabei unscharf und ausschnitthaft und lassen sich nicht genau verorten. Farbe und Materialität dienen als Hinweis auf das Tempelhofer Feld, das auf dem ehemaligen Flughafengelände seit 2008 begehbar ist, und scheinen je nach Betrachter:in und Kontext unterschiedlich. Angelehnt an die „Formula Guides“ Fächer von Pantone zur Klassifizierung von Farbe besteht das Projekt aus einem Farbraster im Posterformat sowie einem Farbfächer mit assoziativen Farbwerten, die die Wirkung von Materialität und Farbe aufgreifen, auf das Tempelhofer Feld verweisen und trotzdem spekulativ bleiben.

Der Fächer

Das Poster

4. Format

Das „Pantome Matching System“ ist ein von Pantone entwickeltes System zur Klassifizierung von Farbe und ist eine der bekanntesten Farbsysteme. Das Farbsystem in Form der Farbfächer, der sogenannten „Pantone Formula Guides“ ist das Vorbild für das Format des Projekts. Die 18 Basisfarben bilden die Grundlage für alle weiteren Farben des Systems, wobei die einzelnen Farbbezeichnungen durch Nummern erfolgen. Die Aufschlüsselung der Farbwerte in Zahlencodes soll unabhängig der unterschiedlichen und individuellen Wahrnehmungen zu einer objektiveren Klassifizierung von Farbe genutzt werden. Da Farben je nach Materialbeschaffenheit anders erscheinen, gibt es die Möglichkeit, die Fächer auf beschichtetem sowie unbeschichtetem Papier zu bestellen. Auch hier hängen Material, Oberfläche und Farbwahrnehmung zusammen und werden in Verbindung gebracht. Das Projekt greift die Pantone Farbrezepturen auf. Statt klar definierter Farbwerte steht allerdings die persönliche Farbwahrnehmung im Vordergrund. So bekommen die einzelnen Farbfelder mehrere assoziative Wörter zugeordnet. Die vier ortsspezifischen ‚Basisfarben‘ Rot, Grautöne, Gelb/Beige/Brauntöne und Grün des Tempelhofer Feldes/Flughafens bekommen separate Fächerarme zugeordnet.

5. Umsetzung

Um Fotomaterial zu sammeln, ging ich im gesamten Seminarzeitraum insgesamt vier Mal für jeweils ein paar Stunden zum Feld, um dort zu fotografieren. Da die Form des Farbfächers feststand, wollte ich anhand einer größeren Anzahl an Fotos prüfen, ob die Annahme, vor alle Gelb-/Brauntöne, Grün, Rot und Beton-/Asphalt-/Grautöne vorzufinden, stimmte und die Projektidee aufging. Ein Bedenken war, dass der Seminarzeitraum nur die Frühlings- und Sommermonate abdeckte und dass die vorgefundenen Farben damit stark variieren könnten. Es stellte sich beim Sortieren der Fotos nicht als Problem heraus. 

Die Fotos von vier Besuchen auf dem Feld sortierte ich nicht, wie anfangs überlegt, nach Material/Materialität, sondern nach den vier Farbgruppen, die am häufigsten vorkamen. Der Fächer sollte pro Farbbahn eine Farbe in ihren Abstufungen zeigen. Auch das Farbraster auf dem Poster sollte so angeordnet werden. Um die Fotos auf dem Fächer besser ordnen zu können, sammelte ich Infos zu den Eigenschaften, der Funktion, Nutzung, dem Symbolwert und Vorkommen der verschiedenen gefundenen Materialien durch. Da für die Originalaufnahmen oft größere Ausschnitte gewählt wurden, konnte ich das Material der abgebildeten Oberflächen für die Recherche nachvollziehen. 

Um spekulativ-assoziative, dem statisch-wissenschaftlichen Benennungssystem bei Pantone entgegengesetzte, „Namen“ für die Farbflächen auf dem Fächer zu finden, recherchierte ich neben den Materialeigenschaften zum Thema Farbpsychologie/Farbassoziation. Eva Heller führte 1998 eine Studie zu Farbwahrnehmung durch. In der Studie, die als Monografie unter dem Titel „Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, Kreative Farbgestaltung“ veröffentlicht wurde, ist Gelb als „zwiespältige Farbe“ unter anderem mit Offenheit, Licht und Ferne assoziiert, aber auch als Warnfarbe, mit Neid, Ärger konträr besetzt. In einem kurzen Beitrag wird die Geschichte von Braun als Farbe des Nationalsozialismus (damals auf die frühe Uniform- und Parteifarbe zurückzuführen) aufgegriffen. Gleichzeitig ist Braun in Bezug auf organisches Material oft mit Welken, Reifen, Vergänglichkeit assoziiert. 

Der assoziative Aspekt von Atmosphäre, Materialität und Raum, auf den in der Literatur immer wieder verwiesen wird, brachte mich in der Umsetzung dazu, selbst assoziative Farbwerte zu erfinden. Mit meiner Freundin Marta schrieben wir getrennt eigene Wörter zu den einzelnen Feldern auf und verglichen diese. Es stellte sich heraus, dass unsere Assoziationen zu den einzelnen Farben mit dem gesammelten Hintergrundwissen oft ähnlich waren. Die Assoziationen unter den Farbfeldern sind also eine Mischung aus Infos zu Farbe und Material, Recherchewissen aus dem Seminar und persönlichen Gedankenketten.

In InDesign legte ich für das Poster ein A3 Format fest. Für den Fächer auf 300mg beschichteten Papier (glanzlos) rechnete ich analog die Abstände und Größe aus, bevor ich ebenfalls ein Fächerdokument mit insgesamt fünf Bahnen (Rot – Grün – Beige/Braun – Asphalt/Grau – Beige/Braun) an. Dem dominanten Beige/Braun/Gelb, das in meinen Fotos am häufigsten (organisches/künstliches Material) auftrat, wurden zwei Bahnen zugeordnet. Das Poster kann als Ergänzung zum Fächer gesehen werden.

6. Reflexion und Ausblick

Im Laufe des Seminars setze ich mich nicht nur durch meine eigene Themenwahl, sondern auch im Austausch mit den anderen Teilnehmer:innen und deren Projekten mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten und Herangehensweisen auseinander. Das half mir sehr dabei, das eigene Projekt etwas einzugrenzen und sich zu trauen, eigene Ideen vor der Gruppe und mit der Gruppe gemeinsam zu diskutieren. Auch, wenn die Themenfindung im Rückblick klar erscheint und meine Gedanken zu dem Thema doch immer in eine ähnliche Richtung gingen, fand ich es zu Beginn schwer, alle Informationen zu ordnen. Teilweise konnte ich von der NS-Geschichte des Ortes schwer Abstand nehmen. Durch die vielen Sammlungsbesuche und Sichtungen des Archivmaterials hatte ich unterbewusst eine bestimmte Ästhetik im Kopf, die sich im weiteren Verlauf jedoch lockerte. Ich bin froh, die spannenden Inhalte mitgenommen zu haben und etwas über meine direkte Nachbarschaft gelernt zu haben.

Das Projekt selbst hat mich vor einige Schwierigkeiten gestellt, auch die Praktischen Entwurfsfragen, die ich am Anfang etwas verdrängt hatte, kosteten gegen Seminarende etwas Zeit. Das Ausmessen der Fächerarme und die Abstände der Rasterquadrate sahen in der umgesetzten Form zunächst etwas unausgeglichen aus. Das Projekt war alternativ zum wissenschaftlichen Arbeiten eine geeignete Herangehensweise für das Seminarthema. Für den fertigen Fächer habe ich in der ausgestellten Version ein Zitat eingefügt, dass ich, falls der Fächer noch einmal woanders gezeigt wird, durch neue Assoziationen/Farbnamen ersetzen würde. Die Ausstellungsplanung hat Spaß gemacht und die Arbeit in den Kontexten der anderen im Seminar entstandenen Projekte zu sehen, war ebenfalls spannend. Weiter wäre es denkbar, das ortsspezifische „Tempelhof Matching System“ und die Idee des Farbfächers auf andere Orte anzuwenden und Informationen über die jeweiligen Farben, Materialitäten und Atmosphären der unterschiedlichen Räume zu sammeln.

7. Literatur

Blum, Elisabeth: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung. Baden 2010.

De Bono, Edward: Lateral Thinking: Creativity Step by Step. New York, London, Toronto 2015, S. 9-14.

De la Fuente, Eduardo/Gibson, Margaret/Szypielewicz, Magdalena/Walsh, Michael James: Introduction to thinking place. Materiality, Atmospheres and Spaces of Belonging, in: Thesis Eleven, vol. 172 (1), 2022, S. 3-15.

Drexler, Hans/Hegger, Manfred/Zeumer, Martin (Hg.): Bascis Entwerfen. Materialität. Berlin 2014.

Flughafen Tempelhof: Zur Architektur des Flughafens, Webiste:

URL: https://www.thf-berlin.de/geschichte/nationalsozialismus/ns-architektur

Heller, Eva: Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, Kreative Farbgestaltung. Hamburg 2009 (1999).

Ireland, Tracy/Lydon, Jane: Rethinking Materiality, Memory and Identity, in: Public History Review, Vol. 23, 2016, S. 1-8.

Kernell, Daniel: Colours and Colour Vision. An Introductory Survey. Cambridge 2016.

Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2009.

Munsell Farbtafeln Spektrum Wissenschaft Website

URL: https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/munsell-tafeln/5291

Porombka, Stephan/Schmundt, Hilmar: Unterwegs in Germania: Vorwort. In: Porombka, Stephan/Schmundt, Hilmar (Hg.): Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute. Berlin 2005, S. 7-18.

Pantone Matching System Wikipedia

URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Pantone_Matching_System

Pantone Offizielle Website

URL: https://www.pantone.com/

Smithson, Rober: A Tour of the Monuments of Passaic, New Jersey (1967). In: Flam, Kack (Hg.) Robert Smithson. The Collected Writings. Berkeley 1996, S. 68-74.

Terpstra, Rein Jelle: After Images, in: Bremmer, Melissa/Heijnen, Emiel (Hg.): Wicked Arts Assignments. Practising Creativity in Contemporary Arts Education. Amsterdam 2020, S. 86f.

Wagner, Monika: Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der postmodernen Kunst von Abfall bis Zinn. München 2002.